"Ergibt keinerlei Sinn": FIFA drängt auf mehr Nachspielzeit - Spitzenprofis besorgt

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"Ergibt keinerlei Sinn": FIFA drängt auf mehr Nachspielzeit - Spitzenprofis besorgt

5 Minuten: Früher viel, künftig wohl verhältnismäßig wenig Nachspielzeit.
5 Minuten: Früher viel, künftig wohl verhältnismäßig wenig Nachspielzeit.Profimedia
Manchester-City-Profi Kevin de Bruyne und Manchester-United-Profi Raphael Varane übten heftige Kritik an einem Vorstoß der FIFA und der IFAB. Der Fußball-Weltverband und das internationale Gremium für Regeländerungen drängen auf längere Nachspielzeiten. Angeblich, um den Fans mehr Spektakel zu bieten und heftiges Zeitschinden zu unterbinden. "Wir werden sehen, wie es läuft, aber es ergibt keinerlei Sinn", warnte De Bruyne. Und trifft mit seinen Worten einen wunden Punkt. Ein Kommentar.

Der moderne Fußball ist eine Extremsportart

Rund elf Kilometer pro Spiel, dreimal pro Woche, bis zu 60-mal pro Saison. So sieht im schlimmsten Fall das Jahr für einen Fußballprofi im Spitzenbereich aus. Für Gelenke, Muskeln und Kniescheiben eine extreme Belastung. Auch mental sind die dichten Spielpläne eine echte Herausforderung. Zeit mit der Familie? Boxing Day, Klub-WM und Ligapokal haben etwas dagegen. 

Spielzüge werden bei den europäischen Spitzenvereinen nur noch selten einstudiert. Auch Trainingseinheiten mit Ball sind längst kein täglicher Fixpunkt mehr. Im Vordergrund stehen zumeist Regenerationseinheiten und Besuche beim Masseur. 

Fußball ist eine kräfteraubende Sportart. Das Spielfeld ist riesig, pro Partie werden 90 Minuten veranschlagt. Klar, häufig befindet sich der Ball nicht am Spielfeld. Es kommt zu kleinen Unterbrechungen durch Einwürfe, Standardsituationen, Wadenkrämpfe, Diskussionen mit dem Schiedsrichter, VAR-Kontrollen, Torhüter, welche die Kugel außerordentlich lange in den Händen halten…

Zwischen 50 und 60 Minuten wird im europäischen Spitzenbereich tatsächlich Fußball gespielt. Der Rest? Willkommene Verschnaufpausen für überbeanspruchte Spitzensportler. 

Spitzenprofis üben heftige Kritik

Der FIFA und der IFAB - ein Gremium, welches Regeländerung für den internationalen Fußball beschließen und umsetzen soll - ist die Differenz zwischen Netto- und Bruttospielzeit aber ein Dorn im Auge. Also testete man bei der Weltmeisterschaft 2022 in Katar erstmals auf der großen Bühne sogenannte “Monster-Spielzeiten”. 

1 Minute Nachspielzeit nach der ersten Halbzeit, 3 Minuten nach der zweiten Halbzeit. Insofern nichts Außergewöhnliches passiert ist, wurde das in den vergangenen Jahrzehnten weltweit so gehandhabt. 6 oder 7 Minuten Nachspielzeit? Waren immer die absolute Ausnahme.

In Katar hingegen waren sie plötzlich die Regel. “Wir wollen das Zeitschinden bekämpfen. Wir wollen, dass die Fans das Spiel genießen. (...) (Der neue Ansatz) wird überall sehr geschätzt”, erklärte FIFA-Präsident Gianni Infantino im März dieses Jahres.

Eine sehr subjektive Wahrnehmung. Denn weder die Spielergewerkschaft FIFPro, noch Spitzenprofis wie Raphael Varane oder Kevin de Bruyne sind vom neuen Ansatz überzeugt, im Gegenteil.

Nach dem englischen Supercup zwischen Arsenal und Manchester City bilanzierte De Bruyne: “Wir haben mit den Spielern von Arsenal und sogar mit den Schiedsrichtern darüber gesprochen - sie wollen es gar nicht machen, aber es ist die neue Regel und es ist nun mal so.

In einem Spiel wie heute gab es sogar in der ersten Halbzeit drei Minuten Nachspielzeit. Man kann nur erahnen, was passiert, wenn man gegen eine schwächere Mannschaft spielt, die ständig Zeit schinden muss. Heute haben wir 12 bis 13 Minuten länger gespielt. Ich kann mir Spiele vorstellen, die 20 bis 25 Minuten extra dauern. (...) Wir werden sehen, wie es läuft, aber es ergibt keinerlei Sinn.”

Champions-League-Sieger De Bruyne hat kein Verständnis für die neuen Regelungen.
Champions-League-Sieger De Bruyne hat kein Verständnis für die neuen Regelungen.Opta by StatsPerform/Profimedia

Mehr Fußball - bedeutet das automatisch mehr Unterhaltung?  Geht diese simple Rechnung auf? Keineswegs, wie Raphael Varane versichert: “Wir Manager und Spieler sprechen seit vielen Jahren über unsere Sorgen, dass es zu viele Spiele gibt, dass der Spielplan überfüllt und das physische und psychische Wohlbefinden der Spieler in Gefahr ist.

Trotz unserer früheren Rückmeldungen haben sie jetzt für die nächste Saison empfohlen: längere Spiele, mehr Intensität und weniger Emotionen, die die Spieler zeigen sollen.”

Varane selbst zog sich im Alter von 29 Jahren aus der französischen Nationalmannschaft zurück - weil ihm die Belastung zu groß wurde. Er verglich das Pendeln zwischen Verein und Nationalteam, als befände man sich in einer “Waschmaschine”.

Der FIFA läuft die Zeit davon 

Für den Fußball-Weltverband steht das Spektakel im Vordergrund. Man versucht, das Produkt Fußball auch außerhalb Europas und Südamerikas vermehrt zu vermarkten: Der arabische Raum, China oder die USA bestimmen das Geschehen am globalen Aktienmarkt. Hier Turniere auszutragen, hier die Massen zu bewegen: das würde der FIFA große Mehreinnahmen garantieren.

Doch Fußball ist eine seltsame Sportart. So ist es etwa ein “low-scoring-game”. Treffer sind eine Seltenheit. Und gerade darum bewegen sie die Massen. Für einen Markt, der dazu tendiert, immer mehr und mehr produzieren und anbieten zu wollen - ist das keine romantische Eigenschaft, sondern eine höchst verdächtige.

Weshalb auch eine Anpassung der Abseits-Regel im Raum steht, welche mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit für mehr Treffer sorgen würde.

Manchmal passiert auf dem grünen Rasen so gut wie gar nichts. Trotzdem haben die Zuschauer die Zeit ihres Lebens. Fußball lebt von der Stimmung auf den Rängen, von verpassten Möglichkeiten, unerklärlichen Fehlern, geplatzten Träumen und den glorreichen, seltenen Momenten, in denen alles aufgeht, ein Spielzug oder eine Einzelaktionen alles bis dahin Gesehene auf den Kopf stellt. 

Die FIFA scheint den Fußball vermehrt an neue Märkte anpassen zu wollen.
Die FIFA scheint den Fußball vermehrt an neue Märkte anpassen zu wollen.AFP

Das Zeitschinden ist ein großes Übel, keine Frage. Die FIFA kündigte an, dass es durch die extrem langen Nachspielzeiten einen Lerneffekt geben soll. Die Spieler sollen lernen, dass das Zeitschinden nichts nutzt, weil die versäumte Zeit ohnehin nachgeholt wird. Grundsätzlich ein schöner Gedanke.

Auf die berechtigten Sorgen der Spieler und der Spielergewerkschaft geht die FIFA aber nicht ein - und verpasst damit eine große Gelegenheit. Bemühungen, den Spielplan zu regulieren und dafür zu sorgen, dass weniger Partien stattfinden, gibt es nicht. Stattdessen plant man ab Dezember 2023 eine zusätzliche Klub-WM mit 32 Mannschaften.

Macht sich der Weltverband ernsthafte Sorgen um die Attraktivität des Spiels? Finanzielle Chancengleichheit für die Vereine, das Regulieren von Geldströmen aus Scheichstaaten und eine faire Qualifikation für internationale Wettbewerbe  - sind das dann nicht eigentlich die Baustellen, an denen die FIFA arbeiten sollte? Werden diese Entwicklungen nicht gestoppt, wird das den Fußball zwangsläufig in seinem Kern erschüttern. 

Ein Kommentar von Micha Pesseg.
Ein Kommentar von Micha Pesseg.Flashscore