Kommentar: Cristiano verdient 200 Millionen Euro pro Jahr - ja und?

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Kommentar: Cristiano verdient 200 Millionen Euro pro Jahr - ja und?

Kommentar: Cristiano verdient 200 Millionen Euro pro Jahr - ja und?
Kommentar: Cristiano verdient 200 Millionen Euro pro Jahr - ja und?AFP
Wie gerne würde ich mich über das unglaubliche Jahresgehalt von Cristiano Ronaldo empören können! Doch es nutzt nichts. Wer Spitzenfußball mitverfolgt, seinem Verein zujubelt und dem allgemeinen Wirbel erliegt, unterstützt ein System aus Steuerhinterziehung, Marketingstrategien und Sportswashing. Alles ganz normal. Ein Entkommen aus dem Irrsinn gibt es nicht, bloß ein paar kleine Lichtblicke - zum Beispiel N'Golo Kanté.

Der Wahnsinn hat System. Gigantische Ablösesummen sind seit dem Bosman-Urteil 1995 Usus, das Wettbieten internationaler Spitzenvereine um die großen Stars des Fußballs verlor seine Grenzen. Zwar toppen die US-Ligen NBA, NFL, NHL und MLB die utopischen Gehälter teils, doch in der Neuen Welt spielen Tradition und Nostalgie eine kleinere Rolle als in Europa. Die Red Bull-Vereine haben sich ursprünglich der amerikanischen Franchise-Idee bedient und diese auf den Fußball angepasst. Spendierfreudige Investoren und aus dem Boden gestampfte Konstrukte sind in den USA völlig normal, doch die traditionsbewussten Zuschauer in Deutschland müssen sich erst mit dem Gedanken anfreunden.

Cristiano Ronaldo sprengt (mal wieder) alle Grenzen

Was ist Fußball? Aus wirtschaftlicher Perspektive eine enorme Werbefläche. Europa ist der weltweit reichste Kontinent, zugleich auch ein ungeheuer moralischer Erdteil - zumindest nach Eigenverständnis. Großen Herstellern und Produzenten begegnen die Menschen hier mit einer grundsätzlichen Skepsis. Also heften sich die Automobilhersteller, Wettanbieter, Versicherungen, Öllieferanten und Holdings autokratischer Staaten an jenen Sport an, der Woche für Woche hunderte Millionen Menschen an die Fernsehgeräte und ins Stadion bringt. An jenen Sport, den die Menschen mit Zusammenhalt, Freude, Begeisterung verknüpfen: Fußball. 

Cristiano Ronaldo ist sportlich keine große Nummer mehr. Er ist berüchtigt für seine Selbstinszenierung. Ihn in eine funktionierende Mannschaft zu integrieren: schwierig. Zwischen 2008 und 2018 sprachen seine Tore und Titel, seine vielen spielentscheidenden Aktionen für ihn. Trotzdem stellte er auch später Ansprüche auf Stammplatz und Führungsrolle. Spätestens, als er im Interview mit Piers Morgan den Verein öffentlich angriff, war klar: Manchester ist nicht mehr der richtige Ort für ihn. Der Vertrag wurde aufgelöst, Cristiano war offiziell beschäftigungslos. Jetzt ging es nach Saudi-Arabien.

Wie wir neuerdings wissen: es war der Deal seines Lebens. Obwohl er sich anfangs gegen einen Wechsel in die sportliche Bedeutungslosigkeit sträubte, die umgerechnet fast 200 Millionen Euro Jahresgehalt waren einfach zu verlockend. So viel soll der einstige GOAT-Kandidat inklusive Werbedeals, Leistungsprämien und so weiter kassieren. Wohl in dem Deal enthalten, ist Ronaldos Versprechen, Saudi-Arabiens Antrag auf Austragung der FIFA Weltmeisterschaft 2030 zu unterstützen.

Das eigentlich Schockierende: Was seitens al-Nassr wie ein waghalsiges Unterfangen wirkt, wie hemmungslose Geldverbrennung - ist eigentlich ein kluges Investment. Kaum ein europäischer Fußballfan würde sich jemals freiwillig ein Spiel der Saudi Professional League ansehen. Jetzt sieht die Lage plötzlich anders aus. Mit Sicherheit wird sich einer der zahlreichen Streaminganbieter Übertragungsrechte sichern. Mit Sicherheit werden einige der dutzend Millionen CR7-Anhänger sich die Spiele ansehen, die Werbebanden, den Brustsponsor und das Vereinsemblem zu sehen bekommen. Der Werbewert von al-Nassr FC ist über Nacht um ein Vielfaches gestiegen.

Das alte Märchen, ein Transfer würde sich allein durch Trikotverkäufe refinanzieren, wurde oftmals widerlegt. Bayern München verkaufte 2021 knapp 3,25 Millionen Vereinstrikots. Kein anderer Fußballverein setzte mehr Stück ab. Doch der Großteil dieser Einnahmen landet bei adidas. Nur rund 10–20 % an der Säbener Straße. Üblicherweise sichert sich der jeweilige Sportartikelhersteller den Löwenanteil an den Verwertungsrechten, dafür wird bereits bei Unterzeichnung des Ausrüstervertrags eine gewaltige Grundsumme überwiesen - zwischen 60 und 70 Millionen Euro sollen die Bayern aus Herzogenaurach jährlich erhalten.

Werberechte und exklusive Deals sind die wahren Zugpferde. Insbesondere Cristiano lässt sich seit eh und je in den unterschiedlichsten Reklamen bewundern. Zudem genießt er in Saudi-Arabien eine unheimliche Fanbase, die Tickets für Spiele mit seiner Beteiligung werden Wucherpreise generieren. Bislang hatte al-Nassr eine durchschnittliche Auslastung bei Stadionbesuchern von rund 50 % (also rund 12.000 Zuseher). Steigerung im neuen Jahr: garantiert.

Es war einmal...

Die sportliche Bedeutungslosigkeit ist Cristiano Ronaldo sicher. Er ist 37 Jahre alt, schon jetzt nahmen die großen europäischen Vereine aus sportlichen, die kleineren aus wirtschaftlichen Gründen Abstand von einer Verpflichtung. Im Kalenderjahr 2022 absolvierte er 45 Pflichtspiele für Manchester United und Portugal. Ein Zeitraum, in dem er exakt 16 Tore erzielte und fünf Vorlagen gab. Mehr nicht.

Ohne Wechsel nach Saudi-Arabien wäre er nicht in Armut gestorben. Trotzdem macht der Wechsel aus seiner Sicht viel Sinn. Wer sagt zu solchen Summen schon nein? Die Antwort: jene wenigen Spieler, die im Sport mehr als eine Verdienstmöglichkeit sehen. Jene Handvoll Profis, die ihre Karriere fast ausschließlich bei einem Verein verbracht haben, die dem Ruf des Geldes konstant nicht erlegen sind. Es gibt sie. Lionel Messi gehört nicht dazu, das wissen wir seit dem Jahr 2021.

N'Golo Kanté eher noch. 2016 war ihm bei seinem Wechsel zum FC Chelsea ein unmoralisches Angebot vorgelegt worden. Für die Verwertung seiner Bilderrechte hätte eine eigene Firma in einem Niedrig-Steuer-Land gegründet werden sollen. Dadurch hätte er sich massig Steuern gespart - ein fast übliches Unterfangen im Spitzenfußball. Messi, Modrić und Ronaldo bedienen oder bedienten sich dieser juristischen Grauzone. Kanté zog es vor, sein Gehalt "normal" ausbezahlt zu bekommen. Also netto aufs Girokonto. 

Vielleicht sind es diese Lichtblicke, die traditionsbewussten Fußballfans noch etwas Hoffnung geben. Belügen wir uns nicht selbst: wer Spitzensport verfolgt, unterstützt damit nicht nur seinen eigenen Verein, sondern auch riesige, oft rein auf Profit orientierte Unternehmen, die lieber Menschenrechte und Fiskus verzichten würden, als auf ein paar Millionen Euro mehr Gewinn.

Sportswashing hält seit Jahrzehnten Einzug in den Fußball - nicht nur bei der WM nicht bloß bei PSG oder Manchester City oder Newcastle United. Wer ganz oben mithalten will, muss in der Lage sein, hohe Gehälter und noch höhere Ablösen zu bezahlen. Kaum ein Premier League-Verein, der sich nicht in ausländischer Hand befindet. 90plus titelte eine Betrachtung der Besitzverhältnisse in England treffend: "Welchem Reichen juble ich zu?"

Allmählich stellt sich die Frage: gehören Moral und das Zahlen von Steuern der Vergangenheit an? Das Jahresgehalt von Cristiano Ronaldo klingt zunächst unglaublich. Doch sämtliche Quellen bestätigen: ja, die Summe ist echt. Und doch, wenn ich tief in mich hineinhorche, bleibt ein Schock darüber aus. Ich habe mich an horrende Ablösesummen und utopische Gehälter gewöhnt.

Auch der Gedanke, die wunderschönen Spielzüge und spannenden Duelle in den Top-Ligen mit sorgfältiger Gehirnwäsche und manipulativer Werbung zu bezahlen, tut mir nicht mehr weh. Ebenso wenig die steigenden Kosten bei DAZN, Sky und Konsorten. Irgendwie geht es sich schon aus, irgendwie fokussiere ich mich während der 90 Minuten doch auf das eine: den Ball, die Spieler, das Spiel. Das Bedürfnis, Fußball zu erleben, ist einfach zu groß.