Kommentar: Thomas Tuchel muss gehen - nicht erst im Sommer

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Kommentar: Thomas Tuchel muss gehen - nicht erst im Sommer
Thomas Tuchel und der FC Bayern verspielten am Freitagabend wohl endgültig die deutsche Meisterschaft 2023/24.
Thomas Tuchel und der FC Bayern verspielten am Freitagabend wohl endgültig die deutsche Meisterschaft 2023/24.Profimedia
Thomas Tuchels Amtszeit beim FC Bayern München war von Anfang an geprägt von Missverständnissen und Unklarheiten. Nachdem sein Abschied für Sommer 2024 angekündigt worden war, gab es Hoffnung auf einen Schulterschluss. Dieser blieb aus. Nach dem DFB-Pokal haben die Münchner auch die deutsche Meisterschaft verspielt. Nun ist es Zeit, sich von Tuchel zu trennen - und zwar möglichst bald. Eine kommentierende Analyse von Micha Pesseg.

Thomas Tuchel ist ein fantastischer Trainer. Als er 2021 den FC Chelsea übernommen hatte, befanden sich die Londoner in einer handfesten Krise. Wenige Monate später gewann er mit den Blues die Champions League. Insider loben ihn für seine hohe Intelligenz und ein ausgeprägtes taktisches Fachwissen. Von Fußball hat der 50-Jährige wohl mehr Ahnung als 99 Prozent der restlichen Menschheit (mir inklusive).

Das ändert nichts daran, dass seine Amtszeit beim FC Bayern München ein einziges Missverständnis war. Schuld ist der Coach daran nur bedingt. Auch sein Arbeitgeber steht in der Verantwortung. Denn vom berühmten "Mia san Mia" ist in München nur noch wenig übrig. Von Anfang an musste sich Tuchel in einem toxischen Umfeld zurechtfinden. 

Wieso Tuchel zu Nagelsmanns Nachfolger wurde...

Der Reihe nach: Im März 2023 wurde er als Nachfolger von Julian Nagelsmann vorgestellt. Nicht nur der heutige Bundestrainer war von dieser Entscheidung überrumpelt.

Unter Nagelsmann hatte sich der FC Bayern lediglich ein paar kleine Patzer erlaubt. Und eine Niederlage in Leverkusen versetze das Management an der Säbener Straße endgültig in Panik. Obwohl man noch in allen Wettbewerben dabei war, wirkte das Horrorszenario einer titellosen Spielzeit immer realistischer.

Mitten während einer Länderspielpause - die meisten Bayern-Profis befanden sich also nicht einmal in München - setzten die damaligen Bosse Oliver Kahn und Hasan Salihamidzic Thomas Tuchel ans Steuer. Die Entscheidung wirkte überhastet. Und das war sie auch. 

Eine echte Strategie war nicht zu erkennen. Tuchel wurde nicht deshalb geholt, weil seine Spielidee besonders gut zum Kader gepasst hätte. Er wurde geholt, weil sich sowohl bei Real Madrid als auch in der deutschen Nationalmannschaft eine baldige Rochade angedeutet hatte. Die Panik, eine einmalige Gelegenheit zu verpassen, veranlasste Kahn und Salihamidzic zum schnellen Wechsel. Ebenso wie die Tatsache, dass das Duo längst um den eigenen Job bangen musste. Denn im Hintergrund begann der mächtige Ehrenpräsident Uli Hoeneß immer lauter zu tönen. Ruhiges und rational begründetes Arbeiten war kaum noch möglich.

... und wieso er es immer blieb

Tuchel übernahm von Julian Nagelsmann eine im Wesentlichen intakte Mannschaft, die aber an einigen taktischen Mängeln litt. Wie Raphael Honigstein in einem viel beachteten Artikel für "The Athletic" herausgearbeitet hat, hatte Tuchel den FC Bayern in den Monaten vor seiner Verpflichtung regelmäßig beobachtet. Dabei war ihm die hohe Konteranfälligkeit der Mannschaft ins Auge gestochen. Also fokussierte er sich zunächst darauf, die Defensive zu stabilisieren. 

Hier offenbart sich ein erstes großes Problem: Tuchel übernahm mitten in der Saison. Zeit, um neue taktische Abläufe zu installieren hatte er keine. Er war von Anfang an zum Gewinnen verpflichtet. Ohnehin zählen beim FC Bayern nur Siege. Also fokussierte sich Tuchel darauf, an den richtigen Stellschrauben zu drehen, anstatt mutige Experimente zu wagen. Gezwungenermaßen baute er auf Nagelsmanns Arbeit auf, anstatt seine eigenen Ideen zu verwirklichen. 

Eine problematische Angelegenheit. Aus taktischer Sicht verfolgen die beiden Trainer recht unterschiedliche Ansätze. Nagelsmann liebt es, den Gegner ins Zentrum zu locken, die Flügelstürmer variabel zu positionieren und durch kompaktes Pressing Dominanz auszustrahlen. Tuchels Mannschaften legen in der Regel viel Wert auf eine kohärente Spielidee, hohe Ballzirkulation und eine klare Struktur mit und ohne Ball.

Eigentlich hatte man in München auf den Tuchel-Effekt gehofft. Darauf, dass er seine neuen Schützlinge zu ähnlichen Höhenflügen verhilft wie einst dem FC Chelsea. Zwei klare Niederlagen im CL-Viertelfinale gegen ein extrem starkes Manchester City und ein frühes Pokalaus gegen den SC Freiburg ließen die Stimmung allmählich kippen. Auch in der Liga drohte der Verlust der Meisterschaft. Dass man zum Saisonende 2023/24 zum elften Mal in Folge die Bundesliga gewann, lag nicht an der eigenen Stärke, sondern am Unvermögen von Borussia Dortmund

Also sollte der Transfersommer die erhoffte Wende einleiten. Hier setzte sich das Dilemma fort. Salihamidzic und Kahn waren aufgrund der Misserfolge vom Verein entlassen worden. Also stand der FCB ohne sportliche Führung da. Thomas Tuchel bekam bei der Kaderplanung außergewöhnlich viel Mitspracherecht und arbeitete eng mit den mittlerweile in die Vereinsführung zurückgekehrten Legenden Hoeneß und Karl-Heinz Rummenigge zusammen.

Diese investierten fast ihre gesamte Kraft in die Verwirklichung des Kane-Transfers. Nach dem Abgang von Robert Lewandowski ein Jahr zuvor wollte man endlich wieder einen echten Mittelstürmer in München begrüßen. Tuchel aber hatte anderswo eine viel dringendere Baustelle erkannt. Er sehnte sich nach einem defensiven Mittelfeldspieler, der diszipliniert seine Postion hält. So wollte er die von Nagelsmann vererbte Konteranfälligkeit in den Griff bekommen.

Konflikt mit Kimmich

Das vorhandene Spielermaterial genügte ihm nicht. Auf der Asienreise in Singapur kam es zu einer verhängnisvollen Pressekonferenz. Detailliert schilderte er den anwesenden Journalisten, wieso Leon Goretzka und Joshau Kimmich diese Aufgabe nicht erfüllen konnten. Er gab intime Einblicke in sein Notizbuch, schilderte freimütig, welche Stärken und Schwächen Goretzka und Kimmich hätten.

Ein rhetorischer Schachzug, der Druck auf die Vereinsführung machen sollte. Allerdings hatte er einen ungewollten Nebeneffekt. Fortan war es für die Medien besonders einfach, Bayerns Mittelfeld-Duo in eine Schublade zu stecken. Immerhin konnte man den eigenen Trainer als zuverlässige Quelle angeben. Ein Brandherd war entstanden, der erst im Verlauf der Saison eingedämmt wurde, weil sich Eigengewächs Aleksandar Pavlovic herausragend entwickelt hatte.

Joshua Kimmich hat in Deutschland ohnehin keinen einfachen Stand. Trotz hoher Ballsicherheit bietet sein verbissener Ehrgeiz viel Angriffsfläche. Er ist ein Führungsspieler beim FC Bayern, strahlt in Krisensituationen aber nicht dieselbe Souveräniät wie Thomas Müller oder Manuel Neuer aus. In den Sozialen Medien gehört es fast zum guten Ton, ihn harsch zu kritisieren. Insofern wäre es Tuchels Aufgabe gewesen, Kimmich in der Öffentlichkeit den Rücken zu stärken - nicht ihn zu charakterisieren und den Kritikern auszuliefern. 

Nach seiner frühen Auswechslung bei der 2:3-Niederlage in Bochum war Kimmich den Tränen nahe.
Nach seiner frühen Auswechslung bei der 2:3-Niederlage in Bochum war Kimmich den Tränen nahe.Profimedia

In der Bayern-Führungsebene wurde viel über die tatsächliche Notwendigkeit einer "holding six" diskutiert. Nicht jeder teilte Tuchels Meinung, dass man ohne den erwähnten Spielertypus nicht erfolgreich Fußball spielen könne. Immerhin hatte Hansi Flick im Jahr 2021 die Münchener zum CL-Triumph geführt - mit Goretzka und Kimmich auf der Doppelsechs. Trotz der gegensätzlichen Ansichten bemühte man sich intensiv um Fulhams Palhinha - aber erst, nachdem Harry Kane endlich in der Allianz Arena angekommen war. Am Deadline Day platzte der Transfer. Man hatte sich zu viel Zeit gelassen.

Ausgedünnter Kader war ein riesiges Problem

Jetzt war der Kader an einigen Positionen ungeheuer ausgedünnt. Mit nur einem echten Rechtsverteidiger sowie drei Innenverteidigern ging es in die neue Saison. Und weil schiefgehen muss, was schiefgehen kann, blieben weder Min-jae Kim, Matthijs de Ligt, Dayot Upamecano noch Noussair Mazraoui vom Verletzungspech verschont. Der kleine Kader und die hohe zusätzliche Belastung durch die Teilnahme an der Champions League führte zwangsläufig zu zahlreichen Muskelverletzungen.

Der neue Sportdirektor Christoph Freund korrigierte diese Problemstellen im Winter, wenngleich auch er sich in keiner guten Verhandlungsposition befand. Schon seit Jahren leidet Bayern München daran, dass regelmäßig interne Informationen an befreundete Journalisten weitergegeben werden.

So befanden sich die Verhandlungspartner in einer starken Position, denn sie mussten nur die Zeitung aufzuschlagen, um genau zu wissen, auf welchen Positionen der FCB unbedingt und dringend neue Spieler benötigt. Bestes Beispiel: Beinahe hätte man über 10 Millionen Euro Ablöse für den 33-jährigen Kieran Trippier bezahlt. Die Aussicht, diese Investition durch einen etwaigen Weiterverkauf einzuspielen, gab es nicht.

Thomas Tuchel ist sicher kein einfacher Mensch. Wenn er unter Druck steht, tendiert er zu zynischen oder sarkastischen Aussagen. Weil die Sky-Experten Lothar Matthäus und Didi Hamann seiner Mannschaft regelmäßig eine fehlende Weiterentwicklung angekreidet hatten, begann er im Januar mit ihnen einen mediale Schlammschlacht. Diese brachte zusätzlich Unruhe in den Verein.

Matthäus und Hamann hatten mit ihrer Analyse oberflächlich Recht gehabt, wenngleich sie verkannten, dass Tuchel nur selten in zwei Spielen hintereinander dieselbe Startelf auf den Platz schicken konnte. Eigentlich grenzt es an ein Wunder, dass man trotz des dünnen Kaders im vergangenen Halbjahr nur zwei Pflichtspiel-Niederlagen in 23 Spielen kassiert hatte. Öffentliche Anerkennung bekam Tuchel dafür kaum.

"Teilweise Harakiri" - Woran Tuchel tatsächlich scheitert

Doch nun kommen wir zum wirklich kritischen Teil dieser Analyse. In den vergangenen Wochen verlor er endgültig die Kontrolle über seine Mannschaft. Ich mache das nicht an den Ergebnissen fest, sondern an den Diskrepanzen und Missverständnisen, die sich wie ein alter Kaugummi durch seine gesamte Amtszeit beim FC Bayern ziehen.

Auch aus taktischer Perspektive gibt es Anlass zur Skepsis. Seine Wechsel folgen einem fixen Zeitplan und wirken eher von Anweisungen des Mannschaftsarztes inspiriert, nicht durch taktische Ideen. In-Game-Coaching findet nur selten statt. Versagt Plan A, ist man dem Gegner oft hilflos geliefert. So geschehen bei der 0:3-Niederlage im Spitzenspiel gegen Leverkusen. Xabi Alonso hatte gegen Tuchel überraschenderweise einen defensiven Ansatz gewählt und ihn dadurch vor eine unlösbare Aufgabe gestellt. Erst in der zweiten Halbzeit folgten echte Anpassungen. Die Fünferkette wurde aufgelöst, Sacha Boey musste nicht mehr die ungewohnte linke Schiene beackern.

Eine gemeinsame Spielweise, welcher sich die Spieler konsequent unterordnen, ist weiterhin kaum zu erkennen. Vororentierung, Bewegung ohne Ball - das exisitert nur in gewissen Phasen des Spiels. Nach dem enttäuschenden 2:2-Unentschieden in Freiburg sprach das auch Tuchel selbst an. Sein Team habe in den ersten 30 Minuten "teilweise Harakiri" gespielt und seltsame Dinge gemacht, die man zuvor nie im Training gemeinsam eisntudiert hatte. Er beschwerte sich über Disziplinlosigkeit und eine oft haarsträubende Raumorientierung.

Nach dem Unentschieden in Freiburg hat Bayern keine realistische Chance mehr auf die 34. Meisterschaft in der Vereinshistorie.
Nach dem Unentschieden in Freiburg hat Bayern keine realistische Chance mehr auf die 34. Meisterschaft in der Vereinshistorie.Profimedia

Aussagen, die tief blicken lassen. Schon eine Woche zuvor hatte Tuchel in einem Interview mit ESPN angekündigt, aufgrund der Trennung im Sommer nun "keine Rücksicht" mehr auf die Sonderwünsche und Befindlichkeiten einiger Spieler nehmen zu müssen. Man muss kein Insider sein, um zu erahnen, dass damit vorrangig Joshua Kimmich gewesen sein muss, welcher neuerdings nicht im Mittelfeld, sondern als Rechtsverteidiger aufgeboten wird. Zumal dieser zwei Wochen zuvor lautstark mit Co-Trainer Zsolt Löw aneinandergeraten war.

Dass Max Eberl unter der Woche als neuer Sportvorstand installiert worden war, schien den 50-jährigen Cheftrainer zusätzlich zu irritieren. Seine Mannschaft leide darunter, dass das Organigramm zum wiederholten Male umgebaut wurde. Aussagen, die er vor dem Spiel in Freiburg revidierte. Er sei nur der Trainer, als solcher müsse er die Entscheidung nun einmal akzeptieren. Worte, die für den impulsiven Tuchel extrem ungewöhnlich sind - und die wohl eigentlich bedeuten, dass er nicht das Gefühl hat, noch ein echtes Mitspracherecht zu genießen.

Kein Rückhalt, keine Zukunft

Thomas Tuchel wurde längst zur lahmen Ente. Er ist nicht der einzige Trainer bei einem europäischen Spitzenverein, der schon jetzt weiß, dass er sein Team ab Sommer nicht mehr trainieren wird. 

Doch Jürgen Klopp genießt beim FC Liverpool längst Legendenstatus. Er hat bei seiner Mannschaft und bei den Fans ein unfassbar hohes Standing. Fast alle Profis in seinem Kader hat er überhaupt erst zu Weltstars gemacht. Man denke nur an Mo Salah, Trent Alexander-Arnold oder Virgil van Dijk. Dass diese Spieler sich bis zur letzten Sekunde für ihren Manager aufopfern, steht außer Frage. Und auch Xavi Hernandez und der FC Barcelona pflegen eine besondere Beziehung zueinander.

Die kommenden Aufgaben für den FC Bayern.
Die kommenden Aufgaben für den FC Bayern.Flashscore

Tuchel hingegen hat beim FC Bayern nur wenig Rückhalt. Kaum ein Spieler hat sich unter ihm ernsthaft weiterentwickelt. Rückendeckung vom Vorstand gab es in der Vergangenheit nur in Ausnahmefällen - und wird es in den kommenden Wochen wohl gar nicht mehr geben. Der taktisch undisziplinierte Auftritt gegen Freiburg lässt Zweifel aufkommen, ob der Trainerstab überhaupt noch einen Draht zur Mannschaft findet.

Radikaler Neuanfang "keine Option, sondern eine Notwendigkeit"

Bevor die Frage kommt: Nein, ich weiß nicht, wer der passende Nachfolger für Thomas Tuchel wäre. Aber ich weiß, dass es sich der FC Bayern nicht erlauben kann, bis Saisonende nach dem Motto "Eh schon wurscht" von Blamage zu Blamage zu eilen. Man hat einen Ruf zu verlieren.

Ich hätte Tuchel jeden Erfolg vergönnt. Denn sein trockener Humor und seine Detailversessenheit sind für die Bundesliga und ganz Deutschland eine echte Bereicherung. Doch die Stimmung an der Säbener Straße ist längst verpestet. Ein sofortiger Trainerwechsel wäre meiner Meinung nach die richtige Entscheidung, für alle Beteiligten. Ein radikaler Neuanfang ist keine Option, sondern eine absolute Notwendigkeit. 

Micha Pesseg.
Micha Pesseg.Flashscore