Kommentar: Jetzt also Nagelsmann - eine riskante, aber keine mutige Entscheidung

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Kommentar: Jetzt also Nagelsmann - eine riskante, aber keine mutige Entscheidung

Aktualisiert
Julian Nagelsmann ist neuer deutscher Bundestrainer.
Julian Nagelsmann ist neuer deutscher Bundestrainer.Profimedia
Jetzt ist es beschlossen: Julian Nagelsmann wird seinen Vertrag beim FC Bayern München auflösen und zum jüngsten Bundestrainer der Verbandshistorie ernannt. Eine naheliegende Entscheidung - aber auch die beste Wahl? Zweifel sind berechtigt, denn einmal mehr hat der DFB es verpasst, Mut und Kreativität zu beweisen. Ein Kommentar von Micha Pesseg.

Dass sich der DFB dazu entschieden hat, Julian Nagelsmann zu verpflichten, zeichnete sich früh ab. Nagelsmann gilt als vielversprechendstes Trainertalent in Deutschland. Er besitzt die deutsche Staatsbürgerschaft, auch das war wohl wichtig. Zudem genießt er trotz teils verkrampfter Rhetorik bundesweit viele Sympathien - nicht zuletzt, weil er nach der fragwürdigen Entlassung beim FC Bayern vielerorts Märtyrer-Status genießt.  

Und nach der EM?

Nagelsmann wird sein Amt lediglich bis zur Europameisterschaft 2024 ausüben. 

Daran anknüpfend sei die Frage erlaubt, wie es danach weitergehen soll. Hat der DFB möglicherweise schon Kontakt zu Jürgen Klopp aufgenommen und die Chancen auf ein Engagement in absehbarer Zukunft abgeklopft? Hat man einen klaren, realistischen Plan, wie es nach der EM weitergehen soll? Ist Nagelsmann lediglich Platzhalter für Klopp? Dann könnten von dem Deal tatsächlich beide Seiten profitieren.

Es ist wohl nur eine Frage der Zeit, bis Jürgen Klopp deutscher Bundestrainer wird.
Es ist wohl nur eine Frage der Zeit, bis Jürgen Klopp deutscher Bundestrainer wird.AFP

Zumindest, wenn der sportliche Erfolg einsetzt. Nagelsmann könnte sich mit einer gelungen Heim-EM für größere Aufgaben empfehlen und wieder in den internationalen Fokus geraten. Die deutsche Nationalmannschaft hätte einen neuen Trainer gefunden, der den Medien ohne große Rechtfertigungen vermittelt werden kann.

Sollte aber der sportliche Erfolg allerdings ausbleiben, müsste sich der DFB viel Kritik gefallen lassen - und auch Julian Nagelsmann genießt weiterhin nicht das nötige Standing, um sich eine erfolglose Europameisterschaft erlauben zu dürfen. Im Gegenteil: Ein Aus in der Gruppenphase würde seine Karriere massiv beschädigen. Noch kann er sich auf seinem Status als Trainertalent ausruhen. Auf dem Versprechen, eines Tages der nächste große Innovator des modernen Fußballs werden zu können. 

Neue Baustellen

Und dass der sportliche Erfolg ausbleibt, ist gar nicht unwahrscheinlich. Denn Nagelsmanns Entlassung beim FC Bayern offenbarte - trotz der seltsamen Umstände - seine Schwachpunkte als Führungsfigur. Er konnte nie die gesamte Bayern-Kabine auf seine Seite bringen, nie ein unmissverständliches “Wir-Gefühl” erzeugen. Doch genau danach lechzt der deutsche Fußball - wie der Hype um Rudi Völler und die Stimmung in Dortmund beim 2:1-Sieg gegen Frankreich bewiesen hat.

Im Gegensatz zu Völler ist Nagelsmann trotz aller Wertschätzung kein Liebling der Nation - Völlers Fähigkeiten als Mediator und Schutzschild sind also auch nach der Entlassung von Hansi Flick gefragt.

Insbesondere in der Thematik Manuel Neuer. Die Freistellung von Bayern Torwart-Trainer Tabalovic arteten im Januar in einen Machtkampf aus und mündeten schließlich in die erste Entlassung von Nagelsmanns junger Trainerkarriere. Das Verhältnis zwischen dem DFB-Kapitän und dem designierten Bundestrainer gilt weiterhin als angespannt. 

Manuel Neuer ist im DFB-Team eine Variable, die nicht ignoriert werden kann.
Manuel Neuer ist im DFB-Team eine Variable, die nicht ignoriert werden kann.Profimedia

Wie soll Neuer nach seiner langwierigen Verletzungspause unter Julian Nagelsmann in die deutsche Nationalmannschaft reintegriert werden - ohne, dass in Deutschland eine große Diskussion entsteht? Oder umgekehrt: Wie soll sich Nagelsmann klar für Marc-Andre ter Stegen als deutsche Nummer eins aussprechen und den (einstigen) Kapitän Manuel Neuer auf die Ersatzbank verfrachten - ohne, dass in Deutschland eine große Diskussion entsteht?

Die nächste Frage: Wie möchte der ehemalige Bayern-Coach dafür sorgen, dass die traditionell große Kluft zwischen FCB- und BVB-Spielern nicht größer wird?

Wieso nicht Van Gaal?

Der Sieger hat am Ende immer recht. Vielleicht sind meine Worte also in wenigen Monaten nichts mehr wert, weil Deutschland unter Nagelsmann von Erfolg zu Erfolg eilt.

Doch mein Gefühl ist: neun Monate vor der EM im eigenen Land braucht Deutschland keinen Taktikfuchs. Sondern eine Autorität, die der Nationalmannschaft den immensen öffentlichen Druck nimmt und die Aufmerksamkeit auf sich lenkt. Dem Team ein ausgefeiltes taktisches Konzept zu vermitteln, ist angesichts der wenigen Länderspielpausen vor der Europameisterschaft ein gewagtes Unterfangen. Und genau dafür steht Julian Nagelsmann.

Der DFB hat eine riskante, aber keine mutige Entscheidung getroffen. Wenn ohnehin nur eine Übergangslösung gesucht wurde: Was sprach dann eigentlich gegen Louis van Gaal?

Der Niederländer hätte alle Voraussetzungen für das Traineramt erfüllt.
Der Niederländer hätte alle Voraussetzungen für das Traineramt erfüllt.AFP

Der “Imperator” ist in Deutschland bestens bekannt, war an dem Posten interessiert und hat sein Können als Nationaltrainer mehrmals unter Beweis gestellt. Er hätte durch seine imposante Karriere selbst eine erfolglose Europameisterschaft unbeschadet überstanden und sofort den gesamten Respekt des Teams bekommen.

Bleibt zu hoffen, dass ich mich irre. Dass Julian Nagelsmann neue Euphorie entfacht, die Mannschaft auf Anhieb erreicht und dem vierfachen Weltmeister endlich die Nationalmannschaft gibt und die Heim-EM ermöglicht, welche sich die Millionen großartigen Fans verdient haben. 

Ein Kommentar von Micha Pesseg.
Ein Kommentar von Micha Pesseg.Flashscore