Reaktion: Diese Entlassung sagt mehr über den FC Bayern aus, als über Nagelsmann

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Reaktion: Diese Entlassung sagt mehr über den FC Bayern aus, als über Nagelsmann
Julian Nagelsmann wurde ein Opfer der Umstände
Julian Nagelsmann wurde ein Opfer der UmständeAFP
Julian Nagelsmann ist seinen Job als Trainer des FC Bayern los. Wie die Bild-Zeitung am Donnerstagabend verkündete, habe Sportvorstand Hasan Salihamidzic das nötige Vertrauen in seinen bisherigen Trainer verloren. Eine Entscheidung, die so unerwartet und plötzlich kommt, dass sie viele offene Fragen aufwirft. Fragen, die auch der zu erwartende sportliche Erfolg unter Nachfolger Tuchel nicht endgültig beantworten wird können. Eine Reaktion.

Herbert Hainer geizte vergangene Woche im Interview mit dem kicker nicht mit Lob für Cheftrainer Nagelsmann. Er sei "ein Top-Trainer, der auch gegen Paris bewiesen hat, dass er auf höchstem europäischen Niveau taktisch und strategisch hervorragend agiert." Zudem plane man langfristig mit ihm, weil man "etwas aufbauen" wolle. Der Fortschritt in den vergangenen eineinhalb Jahren sei nicht zu übersehen gewesen.

Das klang vielversprechend, nach einer wohlverdienten Ruhepause vom ewigen Trainerkarussell. Nun klingt es nur noch wie ein blanker Hohn. Hat Hainer seine Lobeshymne ernst gemeint? Falls nein, war sie angesichts der soeben erfolgten Entlassung von Julian Nagelsmann äußerst perfide und zynisch. 

Falls ja, hat er im eigenen Verein offensichtlich nichts zu sagen. Aber gut, der Präsident übernimmt beim FCB nur eine repräsentative Funktion. Zumindest, solange er nicht Uli Hoeneß heißt.

Ein Maulwurf im Haifischbecken

Noch wurde die Entscheidung nicht offiziell bestätigt. Doch die Bild-Zeitung wird mit ihrem Bericht vom Donnerstagabend garantiert recht behalten. Denn das Boulevardblatt ist über die Zustände in München nicht gewöhnlich – sondern außergewöhnlich gut informiert. 

Insbesondere Spitzenvereine versuchen in der Regel, ihre Transferstrategien und strategischen Pläne möglichst lange geheim zu halten. Nicht an der Säbener Straße. Hier folgt seit Wochen ein PR-Desaster aufs nächste. 

Es begann mit Manuel Neuers nicht autorisiertem Interview mit der Süddeutschen. Es folgte der seltsame Umgang mit Serge Gnabrys Privatreise nach Paris. Zuletzt gab ein Maulwurf mehrere Zettel an einen befreundeten Bild-Reporter weiter, auf welchen Nagelsmann seine taktische Marschroute detailliert zu beschreiben versuchte.

Die mächtigen Männer Salihamidzic (li.) und Kahn (re.). Eine Reihe darunter Vereinspräsident Hainer
Die mächtigen Männer Salihamidzic (li.) und Kahn (re.). Eine Reihe darunter Vereinspräsident HainerProfimedia

Interna, die in der Kabine hätten bleiben müssen. Dass sie dennoch durchgesickert sind, legt die Vermutung nahe, dass es im Verein gezielte Versuche gab, Nagelsmann in Misskredit zu bringen.

Streichelkurs vorbei

Keine Frage: Thomas Tuchel ist ein absoluter Fachmann, der sich – trotz seiner teils cholerischen Art – die Chance verdient hat, wieder einen internationalen Spitzenverein zu übernehmen. In den vergangenen Wochen häufte sich die Kritik an der zu laschen Einstellung mancher Leistungsträger.

Es ist nicht einfach, das Haifischbecken in Bayern zu zähmen. Nur selten brannten Julian Nagelsmann – wie in Mönchengladbach, nach der Roten Karte gegen Upamecano – die Sicherungen durch. Er versuchte, die fragile Hierarchie durch gegenseitiges Verständnis und einen gezielten Streichelkurs in den Griff zu kriegen. 

Zum Beispiel, wenn es um Serge Gnabry und Leroy Sané ging. Und in den vergangenen Wochen drehte sich viel um die beiden Flügelstürmer. Regelmäßig wurden sie von einer Öffentlichkeit – die nach der verpatzten WM mit gewetzten Messern nur auf Fehltritte wartete – arg kritisiert. 

Nagelsmann nahm beide in Schutz – aber auch in die Pflicht: “(Ich möchte) sehen, dass sie dieses Vertrauen haben, auch wenn außen herum viele Dinge geschrieben werden, die nicht super angenehm sind für beide. Wo sie nicht immer frei von Schuld sind, aber auch nicht schuldig. Sie haben eben gewisse Charakterzüge. Und das ist auch gut so.”

Seine Spieler behandelte Nagelsmann vorzugsweise mit dem Samthandschuh
Seine Spieler behandelte Nagelsmann vorzugsweise mit dem SamthandschuhProfimedia

Thomas Tuchel – da können wir uns sicher sein – wird das anders handhaben. Eher im Sinne von Oliver Kahn und Hasan Salihamidzic. Mit packenden Ansprachen, viel Emotionalität und noch mehr Schonungslosigkeit. Tuchel ist ein Haifisch, ein Mensch, der auf Eitelkeiten und Sentimentalitäten nur ungern Rücksicht nimmt. Und genau das ist, was sich das mächtige Duo vom neuen Trainer erhofft. 

Warum ausgerechnet jetzt?

Vor dem direkten Duell mit Tabellenführer Dortmund, dem DFB-Pokal-Viertelfinale gegen den SC Freiburg und dem CL-Viertelfinale gegen Manchester City dürften Kahn und Salihamidzic ordentlich Muffensausen bekommen haben. Das Triple ist in jeder Saison das erklärte Ziel. Und in dieser Saison scheint es auch tatsächlich erreichbar zu sein.

Was auch durch die in taktischer Hinsicht fantastische Arbeit von Julian Nagelsmann möglich wurde. Wer sich an der Säbener Straße Dankbarkeit erhofft oder glaubt, hier würde einem Trainer die nötige Zeit geschenkt, um ein Projekt zu entwickeln: hat sich getäuscht. In München funktioniert man entweder sofort oder gar nicht.

Neben der (eher unbegründeten) Panik, die Saison ohne Titel zu beenden, war ein weiterer Faktor ausschlaggebend für den Wechsel zu Tuchel. Ancelotti liebäugelt mit einem Wechsel zum brasilianischen Verband. Conte machte sich mit einer Wutrede bei den Tottenham Hotspurs viele Feinde. Mit Real und den Spurs hätten sich zwei finanzkräftige Vereine möglicherweise auf Trainersuche befunden, die schon in der Vergangenheit häufig mit dem 49-Jährigen in Verbindung gebracht worden sind.

Insofern ist die Entscheidung des FCB verständlich. Ob man dafür Julian Nagelsmann opfern musste, sei dahingestellt. Auch ihm wäre zuzutrauen gewesen, das Ruder noch umzureißen. Salihamidzic und Kahn waren anderer Meinung. Und sie werden in den kommenden Wochen alles dafür geben, damit die breite Masse bald dieselbe Ansicht vertritt. Vielleicht sollte man Kontakt zum gesuchten Maulwurf aufnehmen. Dessen Kontakte zur Bild könnten in dieser Hinsicht Gold wert sein. 

Erfolgsgarant Tuchel?

Grundsätzlich bietet sich eine Länderspielpause immer dazu an, einen Trainerwechsel zu vollziehen. Der neue Übungsleiter hat mehr Zeit zur Verfügung, um seine Strategie und Philosophie dem Kader näherzubringen. Wobei das im Falle des FC Bayern relativ ist. Wenn Thomas Tuchel am Montag sein erstes Training in München leiten wird, stehen ihm ganze 17 Kaderspieler nicht zur Verfügung.

Allerdings liebt Tuchel den Druck und wird hochmotiviert sein, sich ähnlich wie bei Chelsea ein ewiges Denkmal zu setzen. Vergessen wir nicht: knapp fünf Monate, bevor er die Blues überraschend zum CL-Titel 2021 führte, war er bei PSG entlassen worden. Eine Mannschaft rasch auf die Beine bringen – das kann er erwiesenermaßen.

Es ist vorstellbar, dass der neue Trainer die Münchener tatsächlich zu großartigen Triumphen führen wird. Dass die Bayern am Ende der Saison 2022/23 ihrem Briefkopf drei Titel mehr hinzufügen dürfen. Es ist wahrscheinlicher, dass Tuchel – ein Trainer von Weltformat – Erfolg bringt, als dass er Misserfolg bringt. Zumindest kurzfristig.

Auf Thomas Tuchel wartet ein hartes Programm
Auf Thomas Tuchel wartet ein hartes ProgrammFlashscore

Denn was wird passieren, wenn die erste Ernüchterung erfolgt? Unweigerlich wird auch er in den Strudel FC Hollywood mit hineingesogen. Passt das Arrangement Tuchel und FC Bayern auch auf lange Sicht zusammen? Oder wird ihn eines Tages dasselbe Schicksal wie in London, Paris und Dortmund erleiden? Das ist auf keinen Fall auszuschließen. Wer Thomas Tuchel will, bekommt nun mal Thomas Tuchel.

Erinnern wir uns: Er ist ein Mensch, der schonungslos und offen seine Meinung sagt. Auch seinen Vorgesetzten gegenüber. Das wird zwangsläufig zu Konflikten mit den großen Egos in der Vereinsführung führen. Im Zweifelsfall machen Haie auch auf Haie Jagd. So ist das eben.