Der Trainer als VAR: Warum die "Coaches Challenge" im Fußball noch umstritten ist

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Der Trainer als VAR: Warum die "Coaches Challenge" im Fußball noch umstritten ist
Der Video-Assistent ist auch bei vielen Fans längst zum Teil des Kulturguts geworden.
Der Video-Assistent ist auch bei vielen Fans längst zum Teil des Kulturguts geworden.AFP
Fast 60% der deutschen Fußballfans haben sich in einer kürzlichen FanQ-Umfrage gegen die Weiternutzung des Video Assistent Referees in der Bundesliga ausgesprochen. Mehr als die Hälfte befürwortet hingegen eine Coaches Challenge, wie es sie im US-Sport oder im Feldhockey schon seit Jahren gibt. Dabei wäre die neue Technologie in mancherlei Hinsicht sogar ein Rückschritt.

Abstiegsangst, Europa-Ambitionen, der Kampf um die Meisterschaft. Die letzte Saisonphase in der Bundesliga läuft in vollem Gange und jedes Spiel entscheidet potenziell über Karrieren, Geld und vor allem Freud und Leid der Fans. Oft sind es die Schiedsrichter, die diesen Druck am meisten zu spüren bekommen, wenn ein verpasstes Saisonziel oder gar ein Abstieg durch Trainer und Fans nicht etwa an 34 schwachen Spielen, sondern an einer vermeintlich falschen Entscheidung des Unparteiischen festgemacht wird.

Mit der Einführung des Video Assistent Referees sollte alles besser werden, die Entscheidungen richtiger und der Fußball gerechter. Ob es wirklich so gekommen ist, darüber lässt sich trefflich streiten. Was sich in jedem Fall nicht geändert hat, ist die unüberwindbare Trennlinie zwischen Aktiven und Offiziellen. Denn im tiefsten Inneren weiß jeder Trainer: Egal, wie laut er sich beschwert, am Ende werden der Mann in der Mitte und sein Gespann die Entscheidung nicht aufgrund seiner Einlassungen ändern.

Ein gewohntes Bild: Fünf Spieler der Roma belagern Schiedsrichter Fabio Maresca.
Ein gewohntes Bild: Fünf Spieler der Roma belagern Schiedsrichter Fabio Maresca.AFP

Diese Trennung ist sinnstiftend – nicht nur für den Sport. Auch wenn ein Austausch von Argumenten immer gut ist – würde im Gerichtssaal der Verteidiger anstelle des Richters das Urteil sprechen können, hätte die ganze Institution ihren Sinn verfehlt. Dass der Coach an der Seitenlinie reiner Empfänger der Entscheidung ist und letztlich mit ihr leben muss, mag frustrierend sein, ist aber unerlässlich für die Glaubwürdigkeit des Spiels.

Mit der Einführung einer Coaches Challenge, wie wir sie beispielsweise aus dem Basketball oder aus dem American Football kennen, würden sich die Pole der Aktiven und der Offiziellen einander annähern. Je nach Ausgestaltung könnte beispielsweise nur noch der Trainer den Einsatz des sonst inaktiven Video-Assistenten veranlassen, somit hätte er einen realen Einfluss auf die Entscheidungsfindung. Was wären also die Folgen einer Coaches Challenge für die Bundesliga?

Hätte der Titelkampf mit einer Challenge von BVB-Coach Terzic in Bochum eine andere Wendung genommen?
Hätte der Titelkampf mit einer Challenge von BVB-Coach Terzic in Bochum eine andere Wendung genommen?Profimedia

Der Trainer als halber Offizieller

Der Übungsleiter an der Seitenlinie würde an Macht gewinnen. Durch das Ziehen einer Challenge signalisiert er nicht nur, dass er mit einer Entscheidung nicht zufrieden ist, sondern gibt für die Arbeit der Video-Assistenten eine klare Richtung vor. Bei der technischen Ausstattung der Trainerbänke ist davon auszugehen, dass kaum eine Challenge "grundlos" genommen werden würde, somit ist auch der VAR zunächst unter Druck, die Entscheidung zum vermeintlich "Richtigen" zu korrigieren. Bleibt die ursprüngliche Entscheidung des Schiedsrichters aber (aus welchem Grund auch immer) bestehen, so würde es wohl sogar mehr Beschwerden als zuvor geben.

Da wir über Fußball reden und inzwischen jede Art der Dehnung der Regeln genutzt wird, ist davon auszugehen, dass auch die Coaches Challenge abseits ihres eigentlichen Zwecks verwendet werden würde. Ein Trainer könnte beispielsweise in eine Druckphase des Gegners hinein eine sinnlose Challenge nehmen, nur um den Rhythmus des Spiels zu brechen. Zudem ist auch Untätigkeit ein klares Statement: Stellen wir uns vor, drei Spieler auf dem Feld haben ein klares Handspiel des Gegners im Strafraum gesehen, der Trainer aber nicht. Stellt der Coach sich gegen seine Spieler und verweigert die Challenge?

Mehr Glaubwürdigkeit für die Schiedsrichter

Aus Sicht der Unparteiischen war bereits die Einführung des Video-Assistenten eine komplette Umstellung. Die jahrzehntelang erarbeitete Autorität auf dem Platz wurde durch die Anwesenheit einer unsichtbaren Überinstanz in Frage gestellt. Plötzlich galten Beschwerden der Aktiven in erster Linie nicht mehr dem Schiedsrichter, sondern ihm als Überbringer zum ersehnten VAR. Eine Coaches Challenge, die den VAR bis auf die von den Trainern angefragten Situationen "stumm stellen" würde, gäbe ihnen mehr Entscheidungskraft zurück und würde der Überinstanz die Allmacht nehmen.

Der wohl wichtigste Aspekt liegt aber womöglich in der Kommunikation zwischen Trainer und Schiedsrichter. Die Möglichkeit des Einflusses darauf, ob eine Szene überprüft wird oder nicht, könnte einer aufgeheizten Spielsituation die Aggressivität nehmen. Wenn der Trainer genau weiß, dass er die Entscheidung anfechten kann, wenn er möchte, weicht das Gefühl der Ohnmacht einer Art Mitverantwortung. Weiter gefasst übernähme der Coach damit sogar eine Aufgabe, die bisher im Bereich der Offiziellen lag: Die Auswahl der Szenen, über die es sich "aufzuregen lohnt".

In Argentinien geht es den Schiedsrichtern zeitweise an den Kragen.
In Argentinien geht es den Schiedsrichtern zeitweise an den Kragen.AFP

Fans brauchen Erklärungen

Die größte Umstellung wäre eine Coaches Challenge wohl erneut für die Zuschauer. Im Stadion und am Fernseher könnte man das Ziehen der Anfechtung beispielsweise durch einen laut hörbaren Buzzer kenntlich machen, doch entscheidend ist, was danach passiert. Während Schiedsrichter und VAR bisher unerklärlicherweise privat kommunizieren und somit Tür und Tor für allerlei Verschwörungstheorien öffnen, müsste sowohl das Video-Signal der überprüften Aktionen als auch das Audiosignal des Gesprächs zwischen den Offiziellen deutlich vernehmbar für den Stadionzuschauer gemacht werden.

In Zeiten der zunehmenden Distanz zwischen Profifußball und Konsumenten wäre die Coaches Challenge und ein wohl damit verbundener Rückgang des Einflusses des Video-Assistenten sicher ein gutes Signal. Je mehr Verbindungen zwischen Fan und Spiel geschaffen werden (und ja, auch der Einfluss des Trainers als Identifikationsfigur für die Anhänger ist eine solche), desto besser. Gerade in der Bundesliga sind die technischen Möglichkeiten mehr als gegeben, Transparenz und Mitbestimmung zu ermöglichen – Warum es dann nicht tun?

Challenge als erster Schritt zur Besinnung?

Klar, besser wäre es gewesen, direkt mit Einführung des VAR auch die Option einer Coaches Challenge zu bedenken. Nun sind wir es gewohnt, dass alle wichtigen Entscheidungen unter der Maßgabe der größtmöglichen Richtigkeit überprüft werden. Ausgehend von diesem Zustand dürfte es schwierig werden, dem Fan vor dem Bildschirm zu erklären, dass man Fehlentscheidungen des Schiedsrichters ab jetzt wieder akzeptieren will, wenn die Challenge-Möglichkeit eines Trainers schon verstrichen ist.

In der aktuellen "VAR-verwöhnten" Lage eine Option zur Anfechtung einzuführen, ist nur mit einer klaren Definition des Anwendungsbereichs durch die Verbände und mit transparenten Prozessen im Falle der praktischen Anwendung am Spieltag denkbar. Dazu würde unter anderem auch die Einsicht gehören, dass die Quote der Fehlentscheidungen nach weitesgehender Abschaffung des Video-Assistenten wieder rapide ansteigen wird. 

Vielleicht könnte die Diskussion über die Coaches Challenge und den damit zurückgehenden Einfluss des VAR ja auch nützlich dafür sein, über den Umgang mit Ungerechtigkeit im Fußball im Allgemeinen nachzudenken. Wäre es nicht angebracht, den Schiedsrichter als Teil des Spiels zu akzeptieren, der gar nicht zwingend durch technische Hilfsmittel optimiert werden muss, sondern dessen Fehler ebenso akzeptiert werden wie Fehlpässe des Lieblingsspielers?