Flashscore-Geschichtsstunde: Bombenanschlag mit Folgen – Tuchels Bruch mit dem BVB

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Flashscore-Geschichtsstunde: Bombenanschlag mit Folgen – Tuchels Bruch mit dem BVB
Thomas Tuchels Zeit in Dortmund glich einer emotionalen Achterbahnfahrt
Thomas Tuchels Zeit in Dortmund glich einer emotionalen AchterbahnfahrtProfimedia
Der Fußball ist ein kurzlebiges Geschäft. Die Helden von heute sind die Versager von morgen. Nach dem fünften Champions-League-Triumph stellen sich auch Weltklasse-Spieler wie Casemiro, Modric oder Kroos gerne einmal die Frage: was bleibt uns von diesen Erlebnissen eigentlich erhalten? Die Antwort: wunderschöne Erinnerungen und etliche erzählenswerte Geschichten. In der Flashscore-Geschichtsstunde begeben wir uns in die Fußballarchive und beleuchten die Historie des schönsten Sports. Heute widmen wir uns der Frage, wie der unrühmliche Abschied Thomas Tuchels bei Borussia Dortmund zustande kam.

Die Themenwahl liegt auf der Hand. Pünktlich vor dem zum Klassiker hochstilisierten Gipfeltreffen am Samstag fand beim FC Bayern ein Trainertausch statt. Julian Nagelsmann wurde auf unrühmliche Weise seines Postens enthoben, statt ihm wurde jemand installiert, an den Fans von Borussia Dortmund ganz besondere Erinnerungen haben.

Es ist nicht das erste Mal, dass Thomas Tuchel einen deutschen Spitzenverein in neue Sphären führen soll. Im Sommer 2015 kam er mit großen Vorschusslorbeeren ins Westfalenstadion. In 107 Spielen gelang ihm ein Punkteschnitt von 2,12 pro Partie. Dann folgte der harte Bruch mit einem der mächtigsten Männer Fußball-Deutschlands. Dortmunds Geschäftsführer Hans-Joachim Watzke.

Am Anfang lief es zwischen Watzke (li.) und Tuchel (re.) noch bestens
Am Anfang lief es zwischen Watzke (li.) und Tuchel (re.) noch bestensProfimedia

Die Trennung teilte das schwarz-gelbe Fanlager in zwei Teile. Es gibt die einen, die meinen, man hätte sich mit der Entlassung ins eigene Fleisch geschnitten. Bis heute weist keiner von Tuchels Nachfolgern einen besseren Punkteschnitt auf. Und es gibt die anderen, die behaupten, dass Watzke alles richtig gemacht hat. Tuchel habe nicht zum BVB gepasst, sei ein zu schwieriger und eigensinniger Charakter gewesen, um das Erbe von Jürgen Klopp anzutreten.

Ich verfolge nicht die Absicht, einen Schuldigen ausfindig zu machen. Stattdessen möchte ich die Beziehung zwischen Tuchel und der Borussia – in all ihren Höhen und Tiefen – nachzeichnen. Ab wann lebte man sich auseinander? Was waren die Schlüsselszenen, in einem zweijährigen, von vielen Problemen begleiteten Verhältnis? Wäre eine Versöhnung denkbar gewesen? Und wie viel Tuchel von damals steckt im Tuchel von heute?

Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne

2014 lagen hinter Thomas Tuchel 14 Jahre als Trainer in Stuttgart, Augsburg und Mainz. Knapp fünf Jahre davon als Cheftrainer des 1. FSV Mainz 05. Mit den "Bruchweg-Boys" Holtby, Schürrle und Szalai sorgte er in seiner Debütsaison für ordentlich Furore. Mir nur 35 Jahren hatte er sein Debüt als Mainz-Trainer gegeben.

Durch seine modernen, sportwissenschaftlich geprägten Trainingsmethoden, seine Autorität und sein taktisches Verständnis erarbeitete er sich rasch einen ausgezeichneten Ruf. Sensationelle Siege wie ein 2:1-Erfolg über den FC Bayern in Tuchels erst drittem Bundesliga-Spiel oder Platz 5 in der Spielzeit 2010/11 trugen das Ihrige zur Mythenbildung bei. Rasch wurde klar: Der Kerl ist für größere Aufgaben berufen.

Bevor es dazu kam, gönnte er sich eine einjährige Pause vom Rampenlicht. Die Spielzeit 2014/15 verfolgte er als Privatier vom eigenen Wohnzimmer aus. Er nutzte die freie Zeit, um die vielen Erlebnisse beim FSV sacken zu lassen und sich seiner Familie zuzuwenden. Als sich allmählich abzeichnete, dass Dortmund-Ikone Jürgen Klopp seinen Vertrag beim BVB auflösen würde, meldete sich Dortmunds damaliger Sportdirektor Michael Zorc bei ihm. Das Sabbatjahr war beendet.

Auf seiner ersten Pressekonferenz als Dortmund-Trainer versprühte Thomas Tuchel viel Zuversicht
Auf seiner ersten Pressekonferenz als Dortmund-Trainer versprühte Thomas Tuchel viel ZuversichtProfimedia

"Als die Anfrage kam, war einfach klar: So muss es sich anfühlen, wenn ein Verein anfragt, ob du Trainer werden möchtest. Und dann muss alles beiseite gehen, man muss einfach nur sagen: Ja! Wann muss ich wo sein?", erklärte Tuchel gegenüber dem vereinseigenen YouTube-Kanal direkt nach seiner halbstündigen Antrittspressekonferenz Ende Juni 2015. 

Der Hype war riesig. Es fühlte sich richtig an, Tuchel zur Borussia zu holen. Klopp stand für Vollgasfußball. Auch sein Nachfolger galt als energiegeladen, als Vertreter einer von Energie durchtränkten, offensiven Spielweise. "Thomas ist die logische Entscheidung. Er hat eine klare Vorstellung, wie er Fußball spielen lassen will", erklärte Zorc den gut hundert anwesenden Journalisten.

Hinter den Dortmundern lag eine äußerst durchwachsene Saison. Zwischenzeitlich hatte man sich sogar Abstiegssorgen gemacht, am Ende sicherte man sich knapp einen Startplatz für die Europa-League-Qualifikation. Keine ideale Ausgangssituation für den neuen Trainer. Eine Woche nach den ersten Trainingseinheiten und Leistungstests sollte der BVB eine zirka einwöchige Asienreise antreten. Bald darauf folgt der erste Härtetest im europäischen Wettbewerb.

Gleichwohl versprühte Tuchel ungebrochen Optimismus: "Wir werden es kompensieren müssen, weil wir keine andere Wahl haben", sagte er: "Wenn man eine Chance bekommt, einen Klub in einem europäischen Wettbewerb zu trainieren, muss man die auch nutzen." Klar hätte er gerne mehr Zeit gehabt, "aber die Situation ist, wie sie ist."

Eine halbe Stunde, nachdem sich der neue Trainer den vielen Fragen der Öffentlichkeit gestellt hatte, schien alles für eine neue Ära angerichtet zu sein. Klopp war in Dortmund eine Legende geworden, nun aber Geschichte. Es war Zeit für frischen Wind. Für den sollte Thomas Tuchel definitiv sorgen. 

14 Spiele ungeschlagen – und dann kommen die Bayern

Die deutsche Presse bemühte sich von Anfang an, Tuchels Methoden als Kuriosum darzustellen. Statt dem traditionellen Laktattest wurde am sportmedizinischen Institut an der Ruhr-Universität Bochum ausführliche Leistungsdiagnostik betrieben. Ein Sehtest wurde durchgeführt, Atemgase wurden untersucht, Herzfrequenzen beobachtet. Das sollte dem Cheftrainer ermöglichen, individuelle Trainingspläne zu erstellen. In der Vorsaison hatte der BVB häufig Verletzungssorgen gehabt. Tuchel wollte dem entgegenwirken.

Außerdem installierte sein Co-Trainer Benjamin Weber vor den Trainingseinheiten eine Teleskopkamera am Trainingsgelände. Die Einheit sollte gefilmt und anschließend analysiert werden. Heute ein übliches Vorgehen, im Jahr 2015 bot das den Medien noch Anlass zur allgemeinen Belustigung.

Fußballfans wissen: Sportlicher Erfolg heiligt die Mittel. Und der Saisonstart unter Tuchel war herausragend. Man startete mit fünf Siegen in die neue Bundesliga-Saison. Insgesamt blieb man 14 Spiele lang ungeschlagen. In einer 4-1-4-1-Formation übernahm Pierre-Emerick Aubameyang die Rolle als Sturmspitze. Er blühte komplett auf, hatte nach sieben Runden bereits neun Saisontore erzielt. Auch Henrikh Mkhitaryan überzeugte als Spielmacher.

Die Defensive schien ebenfalls gut zu funktionieren. Matthias Ginter bewies als Rechtsverteidiger einen unerwarteten Offensivdrang. Und die Innenverteidigung mit Mats Hummels und Sokratis strahlte viel Souveränität aus. Wenngleich man in brenzligen Situationen nicht immer die Nerven behielt und sich auch kleine Fehler erlaubte. In den ersten 14 Pflichtspielen erzielte man 43 Treffer – kassierte aber immerhin auch 13 Gegentore.

Vor dem großen Schlager gegen den FC Bayern am 8. Spieltag war Tuchel angespannt. Es ging gegen Pep Guardiola, sein großes Idol. Auf der Pressekonferenz vor dem Spiel adelte er den Katalanen mit den Worten: "Guardiola ist der Beste. Auch wenn er das selbst nicht zugeben würde." Ohne Not entschied sich der BVB-Trainer zu zahlreichen Umstellungen. Das Zentrum sollte dichtgemacht werden. Mit Weigl, Castro und Ilkay Gündogan standen drei nominelle Sechser in der Anfangsformation. 

Sokratis wurde auf die rechte Seite gezogen und sollte dort Douglas Costa in Manndeckung nehmen. Shinji Kagawa wiederum kümmerte sich um Xabi Alonso. In der Anfangsphase schien Tuchels sehr defensiver Ansatz aufzugehen. Nach 20 Minuten entschied sich Guardiola aber zu einer taktischen Umstellung. Martinez und Boateng tauschten ihre Position in Bayerns Dreierkette. Der Spielaufbau aus der Innenverteidigung heraus erfolgte fortan mit hohen Bällen.

Zur Halbzeit führten die Münchener mit 2:1. Nach dem Wiederanpfiff machte ausgerechnet der Ex-Borusse Robert Lewandowski mit einem Doppelpack (46. und 58. Minute) den Deckel drauf. Am Ende stand es 5:1 für den großen Favoriten. Thomas Tuchel war erstmals zur Meisterprüfung angetreten – und musste eine krachende Niederlage verkraften.

Lewandowski netzte gegen seinen Ex-Verein gleich doppelt ein
Lewandowski netzte gegen seinen Ex-Verein gleich doppelt einProfimedia

Nach 2005 und 2008 musste Dortmund erstmals wieder fünf Gegentore in München hinnehmen. Im Interview mit Sky zeigte sich Thomas Tuchel frustriert: "Wir haben am Anfang fast alles richtig gemacht, aber schon da hatten wir im letzten Drittel nicht die Konsequenz, die die Bayern später ausgezeichnet hat. Wir müssen zurückkommen zu mehr Bissigkeit und Aufmerksamkeit."

Ein Jahr ohne Titel 

Darauf sollten erstmals sieben Siege hintereinander folgen. Von einzelnen Patzern abgesehen konnte Dortmund mit den Bayern lange Zeit Schritt halten.

Die Bundesliga-Saison sollte man als Vizemeister beenden. Vom Debakel in München weg sollte man den zweiten Tabellenplatz nicht mehr hergeben. Es war aber klar, dass die Meisterschaftsschale zum damals vierten Mal in Folge an den Rekordmeister gehen würde. Auf nationaler Ebene ähnelte Peps bayerischer FCB zu sehr dem katalanischen FCB zu Guardiolas Glanzzeiten. 

Zwei andere Wettbewerbe hätten Trost spenden sollen. Die Europa League, in der man definitiv zu den Mitfavoriten gezählt werden durfte. Außerdem der DFB-Pokal, in welchem man sich keinerlei Blöße gab. In der 2. Runde fertigte man Paderborn im eigenen Stadion mit 7:1 ab. Auch die Bundesligisten Augsburg, Stuttgart und Hertha sollten nicht zum Stolperstein werden. Auf dem Weg ins Pokalfinale hatte die Borussia kein einziges Mal in die Verlängerung gehen müssen.

Und in Europa? Da traf man im Viertelfinale auf den FC Liverpool. Die Reds wurden mittlerweile von einem alten Bekannten trainiert. Jürgen Klopp hatte im Oktober 2015 das Zepter an der Anfield Road von Brendan Rodgers übernommen. Nun kam es zum emotionalen Wiedersehen mit seiner alten, schwarz-gelben Liebe.

Da standen sie sich plötzlich gegenüber. Klopp und Tuchel. Der alte und der neue Trainer. Dort der Menschenfänger Kloppo. Der Dortmund zu zwei Meistertiteln führte, immer markige Sprüche auf den Lippen hatte. Der wie kein anderer für den schwarz-gelben Aufschwung Ende der 00er-Jahre stand. Auch wenn er mittlerweile in England aktiv war. 

Auf der anderen Seite Thomas Tuchel. Man kennt und schätzt sich, noch heute. Beide legten in Mainz das Fundament für eine Karriere als Weltklasse-Trainer. Häufig hatte man sich in der Vergangenheit über die Feinheiten des Fußballs ausgetauscht. Nach der Auslosung zollte Klopp seinem Nachfolger öffentlich Respekt: "Thomas Tuchel ist ein fantastischer Trainer. Die Spieler haben die negativen Erfahrungen der letzten Saison genutzt und einen riesigen Schritt nach vorne gemacht." 

Das Hinspiel in Dortmund endete 1:1. Das Rückspiel an der Merseyside sollte von Chaos geprägt sein. Tuchels Elf begann stark, ging durch das Duo Mkhitaryan und Aubameyang nach nur neun Minuten 2:0 in Führung. Drei Minuten waren im zweiten Durchgang gespielt, als Divock Origi aus Sicht Liverpools verkürzte. Marco Reus stellte neun Minuten später den alten Abstand wieder her. Coutinho, Sakho und schließlich Dejan Lovren mit einem Treffer in der Nachspielzeit drehten die Partien zugunsten Klopps.

Das Aufeinandertreffen ging an Jürgen Klopp (li.)
Das Aufeinandertreffen ging an Jürgen Klopp (li.)Profimedia

Erneut war ein richtungsweisendes Spitzenspiel Thomas Tuchel aus den Händen geglitten: "Wir sind sehr leer. Es fühlt sich so an, wie es ist. Wir standen vor einem großen Ziel, vor einem Meilenstein. Wir haben es aber nicht geschafft. Wir müssen fair zugeben, dass wir nach dem 3:1 nicht mehr damit klargekommen sind, wie Liverpool mit großem Risiko gespielt hat." 

Liverpool sollte noch im selben Jahr die Europa League gewinnen. Dortmund hingegen das dritte Jahr in Folge titellos bleiben. Im Pokalfinale bewies Tuchel, dass er aus seinen Fehlern gelernt hatte und zwang Guardiolas Bayern mit einem 0:0 ins Elfmeterschießen. Nie zuvor war er seinem ersten Titelgewinn im Profifußball näher gewesen. Doch Sven Bender und Sokratis vergaben jeweils ihre Versuche. Am Ende gewinnen eben immer die Bayern. Oder doch nicht?  

Das verflixte zweite Jahr

Punktemäßig war die erste Saison unter Tuchel das zweiterfolgreichste seit Einführung der 3-Punkte-Regel. Nur in der Meistersaison 2011/12 sammelte der BVB mehr Zähler. Selbst beim erstmaligen Meistertitel unter Jürgen Klopp hatte man nur 75 Punkte, im ersten Jahr unter Tuchel hingegen 78 Punkte in der Schlussabrechnung erzielt.

Es gab also guten Grund, optimistisch in die Zukunft zu blicken. Doch die Kaderplanung machte dem BVB schon vor dem ersten Spieltag einen satten Strich durch die Rechnung. Neben Aubameyang war Henrikh Mkhitaryan der große Aufsteiger unter Tuchel gewesen. In 31 Ligaeinsätzen hatte er 11 Tore erzielt und 20 weitere Treffer vorbereitet.

Watzke und Zorc legten ihm einen fetten Deal auf den Tisch. Das Angebot zur Vertragsverlängerung: Laufzeit vier Jahre, dazu eine Gehaltsaufbesserung, angeblich rund 7 Millionen Euro pro Jahr. Daraus wurde nichts. Der Armenier forcierte jedoch den Wechsel. Im Boulevard kursierte eine seltsame Geschichte. Mkhitaryan habe Tuchel per lakonisch formuliert SMS informiert: "Ich gehe zu Manchester United." Mehr sei nicht drinnen gestanden. 

Als wäre das nicht genug, machten sich im selben Transferfenster auch noch Mats Hummels (FC Bayern) und Ilkay Gündogan (Manchester City) auf den Acker.

Für die drei Leistungsträger kassierte der BVB zusammengerechnet 104 Millionen Euro Ablösesumme. Erstmals entstand zwischen Geschäftsführer Hans-Joachim Watzke und dem Trainer richtig dicke Luft. Wenige Wochen zuvor hatte Watzke noch hoch und heilig versprochen: "Es ist völlig ausgeschlossen, dass alle drei nächstes Jahr nicht für Borussia Dortmund spielen. Das kann ich ausschließen." 

Man versuchte, Schadensbegrenzung zu betreiben. So gut es eben ging Im Eilverfahren wurde Ersatz beschafft. Die prominentesten Namen: Raphael Guerreiro kam vom FC Lorient, Rückkehrer Götze aus München, der ehemalige Tuchel-Liebling Schürrle für gut 30 Millionen aus Wolfsburg. Für einen gewissen Ousmane Dembélé überwies man 35 Millionen Euro an Stade Rennes. 

Größtenteils junge Spieler mit viel Entwicklungspotenzial. Aber eher keine Profis, mit denen man sofort den Titel angreifen kann. Tuchels Plan, im zweiten Jahr, nach Guardiolas Abgang Richtung Premier League, den Titel anzugreifen, war – nüchtern betrachtet – von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Im Oktober blieb man vier Spiele in Folge sieglos. Eine 0:2-Niederlage in Leverkusen kostete den zweiten Tabellenplatz. Drei Unentschieden später war man bereits auf Platz 6 abgerutscht.

Ein 1:0-Heimsieg gegen die von Carlo Ancelotti trainierten Bayern sollte auf Sicht nichts nutzen. Weil man in der Champions League gegen Legia Warschau in der Offensive furios, in der Defensive aber planlos agierte. Das Spiel endete 8:4. Wenige Tage später verlor man in Frankfurt knapp, aber verdient.

Das veranlasste Thomas Tuchel zu einer Brandrede. Er griff die Mannschaft öffentlich an. Ohne irgendwelches Erbarmen: "Technisch, taktisch, mental, Bereitschaft. Komplett. Ein einziges Defizit, unsere Leistung. Von der Trainingswoche angefangen, nach dem Champions-League-Spiel, bis heute. Von der ersten bis zur letzten Minute. Eine Leistung, die keinen einzigen Punkt verdient hat." 

Eine Wortmeldung, die einen endgültig vollzogenen Stimmungswechsel verkörperte. Die Schonfrist war beendet. Vom im Juni 2015 noch bestens gelaunten Tuchel war wenig übriggeblieben. In den restlichen vier Ligaspielen bis zur Winterpause spielte man dreimal Unentschieden. Man ging auf dem schwachen sechsten Platz, mit mittlerweile neun Punkten Rückstand auf den Tabellenführer aus München, in die Ruhepause. 

Watzke versuchte zu beschwichtigen: "An unserem Saisonziel, der direkten Champions-League-Qualifikation, idealerweise als Zweiter, ändert sich nichts.“ Tuchel aber war der Frust über die schlechte Kaderplanung zunehmend anzumerken. Die Mannschaft hatte Potenzial, verlangte ihrem Trainer aber viel Geduld ab. Er behalf sich mit einem afrikanischen Sprichwort: "Das Gras wächst nicht schneller, wenn man daran zieht.

Der Bombenanschlag und die Folgen

2016/17 überzeugte Kylian Mbappé bei der AS Monaco als Sturmspitze neben dem Kolumbianer Falcao. Im Alter von gerade einmal 18 Jahren schaffte er es mit den Monegassen bis ins Halbfinale der Champions League. Im Viertelfinale kickte man Borussia Dortmund mit zwei Siegen aus dem Bewerb. Mbappé erzielte in Hin- und Rückspiel drei Tore. Und obwohl es die Geburtsstunde eines künftigen Weltstars sein sollte, blieben die Begegnungen wegen eines völlig anderen Aspekts in Erinnerung.

Aus Habgier hatte sich Sergej W. dazu entschlossen, einen Bombe zu bauen und einen Anschlag auf den Mannschaftsbus von Borussia Dortmund durchzuführen. Eben war man aus dem Hotel abgereist, wollte sich auf den Weg Richtung Monte Carlo machen. Man fuhr durch eine gutbürgerliche Siedlung, vorbei an einer Hecke. Plötzlich eine Explosion. Stahlbolzen zischten durch die Fensterscheiben, die Spieler durchlitten Todesangst.

Marc Bartra wurde schwer am Arm verletzt. Nuri Şahin leistete ihm Erste Hilfe. Der Mittelfeldregisseur beschrieb die Momente in einem Beitrag für The Players Tribune eindrucksvoll: "Ich saß neben Marcel (Schmelzer, Anm.) und habe ihn um eine Wasserflasche gefragt. Er griff rüber und dann ... BANG! Eine Explosion. Splitter flogen durchs Fenster. Danach war alles wie in Zeitlupe. Ich wusste nicht, was passiert. Ich war wie ... eingefroren ... denke ich. Aber mein Verstand, der raste. Es war eine Zeitspanne von zwei Sekunden. Ich dachte über mein ganzes Leben nach. Ich habe ans Sterben gedacht – aber auch ans Leben. Ich dachte an meine Familie. An meinen fünf Jahre alten Sohn, meine ein Jahr alte Tochter, an meine Ehefrau. Ich hatte das Gefühl, sie wären bei mir." 

Die Suche nach dem Täter verlief kompliziert. Erst der Hinweis eines österreichischen BVB-Fans und Börsenexperten brachte die Ermittler auf die richtige Spur. Sergej W. hatte in Frankfurt am Main auf einen Aktienabsturz der Borussia spekuliert – und wollte diesen Absturz mit seinem Attentat selbst einleiten. Ihm ging es um große Geld. Die Explosion hatte auf der Börse einen geringeren Crash zur Folge als in der Dortmunder Führungsriege.   

Die UEFA präsentierte sich von ihrer unsensiblen Seite und verschob die Partie nur um einen Tag. Thomas Tuchel brachte das auf die Palme: "Wir hätten uns gewünscht, dass wir mehr Zeit bekommen hätten, um das von gestern zu verarbeiten. Wir haben uns ohnmächtig gefühlt." Watzke aber stimmte der raschen Neuansetzung zu. 

In den folgenden Wochen entstand zwischen den beiden Streithähnen Funkstille. Man kommunizierte vorzugsweise über kurze Aussagen in den Medien. Tuchel wollte seine Spieler in Schutz nehmen. Er wusste, dass sie unter den gegebenen Umständen nicht zu einer Topleistung in der Lage wären. Die gegnerischen Fans in Monaco empfingen die Borussia mit Applaus. Das glich das erlittene Trauma längst nicht aus. Dortmund unterlag mit 2:3. Auch das Rückspiel im Westfalenstadion ging verloren.

Dass er in diversen Zeitungsglossen für seinen empathischen Umgang mit der Situation gelobt wurde, nutzte Tuchel wenig. Denn Watzke hielt sich zurück, übte keinerlei Kritik an der UEFA oder stellte sich vor seinen Cheftrainer. In einem Interview mit der "WAZ" wurde der BVB-Geschäftsführer einige Zeit später gefragt, ob es zwischen ihm und Tuchel einen Dissens gäbe. Er antwortete ohne Umschweife: "Das ist so, ja."

In einem Geschäft, das üblicherweise von Umschreibungen, Floskeln und oberflächlicher Höflichkeit geprägt ist – war das ein heftiger Schlag ins Gesicht. Tuchel, das war klar, war nur noch Trainer auf Zeit. Dass man sich in der Tabelle noch auf Platz 3 rettete, die CL-Qualifikation also recht problemlos gelang – dass er das DFB-Pokalfinale gegen Eintracht Frankfurt 2:1 gewinnen konnte – spielte jetzt keine Rolle mehr.

Tuchel beim Stemmen des DFB-Pokals 2017
Tuchel beim Stemmen des DFB-Pokals 2017Profimedia

Der Verein verkündete Tuchels Aus mit seltsamen Beiworten: "Der BVB legt großen Wert auf die Feststellung, dass es sich bei der Ursache der Trennung keinesfalls um eine Meinungsverschiedenheit zwischen zwei Personen handelt. Das Wohl des Vereins Borussia Dortmund, den viel mehr als nur der sportliche Erfolg ausmacht, wird grundsätzlich immer wichtiger sein als Einzelpersonen und mögliche Differenzen zwischen diesen."

Und heute?

Aus der erhofften Ära wurden zwei Jahre. Eine ereignisreiche Zeit, in welcher Thomas Tuchel der ganz große Coup in der Bundesliga oder der Champions League nie gelang. Die Umstände waren schwierig. Guardiolas ultradominante Bayern. Das Transferchaos im Sommer 2016. Das Attentat auf den Mannschaftsbus vor einem richtungsweisenden Duell in der Champions League.

Der gemeinsame Weg von Thomas Tuchel und der Dortmunder Borussia ist voll von "Was wäre wenn-"Szenarios. Was wäre, wenn Tuchel geblieben wäre? Wäre er deutscher Meister geworden? Hätte er Dortmund gar zu einer europäischen Spitzenmannschaft geformt?

Die vielen nicht gelebten Träume sind ein Hinweis darauf, dass die Idee, den Energiemenschen Tuchel zum BVB zu holen an sich keine schlechte Idee war.

Am Samstag trifft Tuchel als Bayern-Trainer auf seine alte, kurze Liebe. Nachdem die Trainerrochade an der Säbener Straße bekannt wurde, erklärte Watzke (allerdings explizit als Aufsichtsratschef der DFL): "Für die Bundesliga sagen wir: Willkommen zurück, Thomas Tuchel!".

Sein Debüt als Bayern-Trainer gibt Tuchel kurioserweise gegen Dortmund
Sein Debüt als Bayern-Trainer gibt Tuchel kurioserweise gegen DortmundAFP

Als der Übungsleiter mit PSG auf Dortmund traf und sie mit seinem Starensemble im Achtelfinale auf die Borussia traf, wurde der schwarz-gelbe Geschäftsführer natürlich nach dem alten Coach gefragt. Das spiele keine Rolle, sagte Watzke demonstrativ, er sei ja nicht Jürgen Klopp. Das Tischtuch zwischen den beiden Alpha-Tieren ist zerschnitten und bleibt zerschnitten. Insofern war die Trennung 2017 alternativlos.

Doch in der Zwischenzeit – so hört man aus Frankreich und England – hat der mittlerweile 49-jährige Trainer gelernt, auch sanft zu sein. Er soll sich zu einem Spitzentrainer weiterentwickelt haben, der nicht nur das Taktikbrett, sondern auch die Menschenführung beherrscht.

Vielleicht ist das der Grund, wieso die Dortmunder Verantwortlichen in der Regel so desinteressiert über seine BVB-Vergangenheit sprechen. Wieso man Watzke und Kehl und Co. diese betonte Gleichgültigkeit nie ganz abkaufen möchte. Vielleicht reagieren sie so beiläufig – weil sie sich in ihrem Inneren gelegentlich die Frage stellen: Was wäre wenn?