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Kommentar: Carlo Ancelotti in Brasilien – Ein Pakt mit dem Pragmatismus

Carlo Ancelotti wird ab Sommer neuer Nationaltrainer Brasiliens.
Carlo Ancelotti wird ab Sommer neuer Nationaltrainer Brasiliens.URBANANDSPORT/NurPhoto via AFP
Von außen betrachtet ist es ein Coup, fast schon ein Schachzug von geopolitischer Tragweite im Weltfußball: Carlo Ancelotti, einer der erfolgreichsten europäischen Trainer aller Zeiten, übernimmt Brasiliens Nationalmannschaft. Für viele ist das eine mutige, gar visionäre Entscheidung. Für andere ist es der Offenbarungseid eines einst übermächtigen Fußballgiganten. Doch eines ist unbestreitbar: Diese Ernennung ist ein Erdbeben.

Brasilien, das Land des „Joga Bonito“, hat kapituliert – nicht militärisch, nicht politisch, sondern fußballkulturell. Mit Ancelotti an der Seitenlinie verabschiedet sich das stolze Fußballland von einem jahrzehntelangen Dogma: Nur ein Brasilianer versteht, wie Brasilien spielt. Diese Denkweise wurde zuletzt 2019 ins Wanken gebracht, als Jorge Jesus mit Flamengo Erfolge feierte. Aber Ancelotti ist ein anderes Kaliber – der erste wirklich ausländische Cheftrainer in einer ganzen Ära. Das ist ein Tabubruch, der einer tektonischen Verschiebung gleichkommt.

Doch es ist eine Kapitulation mit Methode. Seit dem letzten WM-Titel 2002 hat Brasilien bei jedem Turnier gegen europäische Gegner die Segel gestrichen. Spätestens seit dem demütigenden 1:7 gegen Deutschland 2014 ist klar: Der Samba-Stil alleine reicht nicht mehr. Die brasilianische Fußballkultur hat in einer globalisierten Welt nicht mehr das Monopol auf Kreativität. Jetzt sucht sie Schutz unter dem Schirm des europäischen Pragmatismus.

Ancelotti als Hoffnungsträger – oder Störfaktor?

Carlo Ancelotti ist nicht nur ein erfahrener, erfolgreicher und gelassener Trainer – er ist ein Symbol für Stabilität. Seine ruhige Autorität, seine Fähigkeit, egogetriebene Kabinen zu befrieden, und seine taktische Flexibilität machen ihn zum idealen Mann für ein Team, das zuletzt oft am eigenen Druck scheiterte. Wenn überhaupt jemand Brasilien zu alter Stärke führen kann, dann ein Mann, der mit Milan, Real, Chelsea, Bayern und PSG gearbeitet hat – und überlebt hat.

Doch dieser Hoffnungsschimmer hat einen Preis. Der neue Trainer bringt eine Philosophie mit, die oft im Kontrast zum brasilianischen Selbstverständnis steht. Ordnung, Struktur, Disziplin – Begriffe, die in Brasilien lange als Euphemismen für das Ende der Spielfreude galten. Die große Frage ist also nicht, ob Ancelotti erfolgreich sein kann, sondern ob Brasilien um diesen Preis erfolgreich sein will.

Spieler wie Vinicius Jr. und Rodrygo, die unter Ancelotti bei Real Madrid aufblühten, werden von dieser Personalie profitieren – ihre Freude ist spürbar. Doch es ist bezeichnend, dass Spieler in Europa zum Star werden müssen, um in der Nationalmannschaft wieder aufzuleben. Casemiro könnte zurückkehren, Neymar vielleicht zu einem letzten Tanz inspiriert werden. Aber auch das sagt mehr über das brasilianische Dilemma aus als über seine Lösung: Man setzt auf europäisch geformte Exporte, statt eigene Identität neu zu entwickeln.

Widerstand im eigenen Land

Es wäre naiv zu glauben, dass Ancelottis Amtsantritt nicht auf Skepsis stößt – gerade unter brasilianischen Trainern. Für viele ist er ein Eindringling, ein Beweis dafür, dass das System ihnen nicht zutraut, den Karren aus dem Dreck zu ziehen. Sollte Ancelotti scheitern – und der Druck ist enorm – wird dies Wasser auf die Mühlen der Traditionalisten sein. Sollte er Erfolg haben, könnte er das Gesicht des brasilianischen Fußballs langfristig verändern.

Carlo Ancelotti ist nicht einfach nur ein neuer Trainer. Er ist ein kulturelles Statement, ein beherzter Versuch Brasiliens, den Anschluss an die Weltspitze zu finden, bevor der Mythos langsam verblasst. Wenn er scheitert, wird man sagen: „Was haben wir uns nur dabei gedacht?“ Wenn er gewinnt, wird der brasilianischer Fußball nicht mehr derselbe sein.

"Joga Bonito" lebt – aber unter neuer Leitung. Und vielleicht ist das der einzige Weg, den Mythos zu retten.

Anton Latuska
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