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Tournee-Halbzeitbilanz: Starke Alte, schwache Alte und ein Frauen-Problem

Comebacker Simon Ammann kann bislang nicht an frühere Erfolge anknüpfen.
Comebacker Simon Ammann kann bislang nicht an frühere Erfolge anknüpfen.KERSTIN JOENSSON/AFP
Zwei Schanzen bewältigt, zwei weitere warten: Die Tournee geht in die kurze Halbzeitpause. Flashscore zieht die Zwischenbilanz.

GEWINNER UND GLÜCKLICHE

PIUS PASCHKE: Fünf Siege in den ersten acht Saisonspringen, als Weltcup-Spitzenreiter zur Tournee gekommen, dort dann Vierter sowie Neunter, Gesamtsechster zur Halbzeit. Wer das aber als Enttäuschung wertet, wird der Geschichte Paschkes nicht gerecht, vergisst, wo dieser herkommt. Paschke, der mit 29 Jahren seine erste wirkliche Vierschanzentournee sprang, der sich alles über viele Jahre und mit so viel Geduld erarbeitet hat, ist nun einer der weltbesten und der beste Deutsche bei der Tournee. Mit 34. Das ist bockstark. Vielleicht sollte man am Podest anbauen - denn der Platz, auf dem Paschke letztlich landet, ist ein Stockerlrang ehrenhalber.

ÖSTERREICH: Neun Jahre ohne Tourneesieg - das ist übel. Zehn Jahre ohne Tourneesieg? Also, bittschön - das wäre für die stolze Schanzenrepublik ein Fall nationalen Notstands. Aber alles sieht zur Halbzeit danach aus, als könnte dieser abgewendet werden: Die Austria-Adler wirken so stark und gefestigt wie zu den glitzernden Zeiten der Goldenen Generation ab Mitte der Nullerjahre. Trainer Andreas Widhölzl hat das geschafft, woran zuletzt andere und auch er selbst gescheitert waren: Das Riesenpotenzial der Tschofenigs, Krafts und Hörls auszuschöpfen. Das Ende der Durststrecke ist ganz nah - und jetzt geht es in den erstmals seit 2016 ausverkauften Innsbrucker Hexenkessel. Tu felix Austria!

GREGOR DESCHWANDEN: Auch die Schweiz hat ihren Pius. Deschwanden ist ein knappes Jahr jünger als das deutsche Original und hat sich ebenfalls mit Engelsgeduld kontinuierlich zum Weltklassespringer entwickelt. Nie hat ein Schweizer die Tournee gewonnen, und Deschwanden wird vermutlich (zumindest diesmal) daran nichts ändern. Wie Paschke aber macht er all denen Mut, denen die Perspektive verloren zu gehen droht.

DIE TOURNEE SELBST: Ausverkaufte Arenen, prächtige Stimmung, grandioser Sport - die Vierschanzentournee funktioniert auch nach fast einem Dreivierteljahrhundert in beeindruckender Weise. Wenig Schnickschnack, behutsam modernisierte Tradition, Charme: In der hektischen Sportwelt des 21. Jahrhunderts ist die Tournee eine beruhigende Konstante, an den Schanzen, vor den Endgeräten. Das Format ist gut, so wie es ist. Und wenn es nun endlich gelingt, die Frauen wirklich zu integrieren, absolut zukunftstauglich.

ENTTÄUSCHTE UND ENTTÄUSCHENDE

DIE POLEN: Noch ist Polen nicht verloren. So beginnt Polens Nationalhymne, und daran könnte sich die gebeutelte Skisprung-Nation aufrichten. Das Problem: Im Skispringen ist diese Hymne derzeit nicht zu hören und wird es in naher Zukunft auch nicht sein - von Siegerehrungen sind die gealterten einstigen Herrscher über die Tournee derzeit meilenweit entfernt. Der dreimalige Sieger Kamil Stoch (37)? Völlig außer Form und nicht dabei. Dawid Kubacki (34), Sieger von 2020? Völlig außer Form und immerhin dabei. Weltmeister Piotr Zyla (37)? Ein Mitläufer. Wer weiß, wie populär dieser Sport in Polen ist, kann sich die Stimmung im Land vorstellen.

SIMON AMMANN: Man würde es dem "Simi" ja einfach wünschen. Noch einmal diesen Schwung zu erwischen, noch einmal irgendein Rezept zu finden. Schließlich hat ein Noriaki Kasai in ähnlichem Alter noch Springen gewonnen. Doch Ammann springt eben derzeit wie ein 43-Jähriger, es fehlt an fast allem. Er sei der einzige Breitensportler in diesem Leistungssport, sagte der doppelte Doppel-Olympiasieger. Die harte Wahrheit aber: So wie jetzt ist es sinnlos. Erkannte auch Ammann und verließ die Tournee nach verpatzter Oberstdorf-Quali.

DIE FRAUEN: Sie sind (immer noch) nicht (richtig) dabei und dennoch Dauerthema. Der Tournee-Torso namens "Two Nights Tour" ist halbgar, den unglücklich am späten Silvester-Nachmittag angesetzten Wettkampf in Garmisch-Partenkirchen wollten 3000 Hartgesottene sehen - bei der Männer-Quali zuvor waren es noch 10.000. Während Paschke, Kraft und Co. nun Schanzenfeste in Innsbruck und Bischofshofen feiern, geht es für die Frauen ins Kleinschanzen-Exil nach Villach. Und während der Quali-Sieger der Männer 3000 Franken kassierte, gab es für Selina Freitag einen Beutel mit Kosmetika - das ist nicht weit vom Kaffeeservice für die Fußball-Europameisterinnen von 1989 entfernt. Die Verbände müssen sich massiv bewegen. Bevor es, schwer vorstellbar, noch peinlicher wird.