Unbestritten zählt Primoz Roglic zu den erfolgreichsten Rundfahrern der letzten Jahre. Siege bei der Vuelta a España, Podestplätze bei der Tour de France, zahlreiche Etappensiege und Klassiker-Triumphe zieren seine beeindruckende Vita. Doch nicht erst seit diesem Jahr mehren sich die Anzeichen, dass die besten Zeiten des mittlerweile 35-Jährigen hinter ihm liegen.
Verdienter Kapitän, aber mit Fragezeichen
Die Resultate sprechen eine deutliche Sprache: Roglic hatte in den letzten Jahren regelmäßig Probleme, über drei Wochen hinweg auf der größten Bühne zu performen – oder die Rundfahrt überhaupt zu beenden. Seit dem traumatischen Verlust der Gesamtführung bei der Tour 2020 auf der letzten Etappe startete er dreimal in das prestigeträchtigste Rennen der Welt. Aufgrund von Stürzen konnte er dabei nicht einmal das Rennen beenden.
Dasselbe Schicksal widerfuhr ihm auch bei der Vuelta 2022 und beim Giro in diesem Jahr. Vor allem gegen die Überflieger Tadej Pogacar und Jonas Vingegaard fand er aber auch oft dann keine Antwort, als er noch im Rennen war und die Tagesform stimmte. Dass Roglic sich nochmal auf ein Niveau heraufschrauben kann, mit dem er mit den beiden Stars der Szene mithalten kann, ist äußerst fraglich.
Lipowitz: Der Aufstieg es deutschen Hoffnungsträgers
Ganz anders präsentiert sich derzeit Florian Lipowitz. Der erst 24-jährige Deutsche gilt als eines der größten Rundfahrt-Talente des internationalen Pelotons – und das nicht ohne Grund. Sein Frühjahr 2025 liest sich wie der Fahrplan eines zukünftigen Champions: ein starker zweiter Gesamtrang bei Paris-Nizza, Platz vier bei der Baskenland-Rundfahrt, gekrönt von seinem sensationellen dritten Gesamtrang beim Critérium du Dauphiné, wo er sich lediglich eben jenen Pogacar und Vingegaard geschlagen geben musste.
Insbesondere der Auftritt bei der Dauphiné ist von symbolischer Bedeutung. Das Rennen gilt traditionell als die Generalprobe für die Tour de France – wer sich hier stark präsentiert, gehört automatisch zum Favoritenkreis für das "Grand Boucle". Lipowitz zeigte dabei nicht nur beeindruckende Kletterfähigkeiten, sondern auch taktische Reife und Nervenstärke. Und gegenüber Roglic hat der Laichinger einen entscheidenden Vorteil.
Die Zukunft gehört den Youngsters
Im internationalen Vergleich zeigt sich seit Jahren ein klarer Trend: Die ganz großen Rundfahrterfolge werden zunehmend von jungen, dynamischen Fahrern bestimmt. Pogacar, Vingegaard, Evenepoel – sie alle gewannen ihre ersten Grand Tours in einem Alter, in dem Roglic noch Skispringer war. Lipowitz reiht sich nahtlos in diese Generation ein und bringt zudem ein Alleinstellungsmerkmal mit, das dem deutschen Radsport seit Jahren gefehlt hat: Das Potenzial, in der Gesamtwertung einer Grand Tour ganz vorne mitzumischen.
Seit den goldenen Zeiten von Jan Ullrich und Andreas Klöden wartet Radsport-Deutschland sehnsüchtig auf einen Rundfahrer, der nicht nur Etappen gewinnen, sondern das Gelbe Trikot realistisch ins Visier nehmen kann. Lipowitz füllt diese Lücke – seine Erfolge sorgen bereits jetzt für Euphorie in der heimischen Radsportszene. Sollte er bei der Tour de France seine Leistung bestätigen, könnte er zum Gesicht eines neuen deutschen Radsport-Booms werden.
Die sportliche Logik spricht für Lipowitz
Bei aller Wertschätzung für die Verdienste von Roglic darf ein Team, das auf Tour-Erfolg aus ist, die sportlichen Realitäten nicht ignorieren. Wenn Lipowitz in den ersten Bergetappen stärker ist, wenn er beim Zeitfahren auf der 5. Etappe über 33 Kilometer in Caen mithält und am Berg Attacken der Konkurrenz kontert, während Roglic eventuell stürzt oder schwächelt, führt kein Weg daran vorbei, ihm dann auch die Kapitänsrolle zu übergeben.
Ein solcher Schritt wäre kein Novum im Radsport. Auch bei früheren Tour-Ausgaben haben sich Kapitänswechsel während des Rennens aus sportlicher Notwendigkeit ergeben – oft mit durchschlagendem Erfolg. Entscheidend ist, dass die Teamleitung die Situation nüchtern analysiert und mutig handelt, wenn es das Renngeschehen verlangt.
Fazit: Die Zeit für den Generationenwechsel ist reif
Die Tour de France 2025 könnte zum Wendepunkt für Red Bull – BORA – hansgrohe und den deutschen Radsport werden. Während Primoz Roglic unbestritten einer der prägendsten Fahrer seiner Ära ist, deutet vieles darauf hin, dass Florian Lipowitz aktuell der stärkere Rundfahrer ist sowie bereit dafür zu sein scheint, die nächste Stufe zu erklimmen und das Podium in Paris in Angriff zu nehmen.
Seine Leistungen im bisherigen Saisonverlauf, seine Unbekümmertheit und sein Talent machen ihn zum logischen Anwärter auf die Kapitänsrolle – vielleicht nicht offiziell zum Tour-Start, aber spätestens dann, wenn es in den Pyrenäen und Alpen um Sekunden und Träume geht.