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Carlos Alcaraz und das Wunder im Jahrhundertspiel: "Lasst das bitte nicht aufhören"

Aktualisiert
Carlos Alcaraz mit dem Coupe des Mousquetaires.
Carlos Alcaraz mit dem Coupe des Mousquetaires.IPA, Independent Photo Agency / Alamy / Profimedia
Carlos Alcaraz saß neben der legendären Musketier-Trophäe und blickte sie schwer verliebt an. 5:29 Stunden lang hatte er um diesen Silberpott gekämpft, wie noch nie um etwas in seinem Leben. In diesem Jahrhundert-Finale von Paris gegen Jannik Sinner, das nur Gewinner verdient hatte, aber nur einen haben durfte. Einen, der dieses Match eigentlich schon verloren hatte. Jetzt, nach diesen fünfeinhalb Stunden für die Ewigkeit, die gemalt und in den Louvre gehängt gehören, wollte der alte und neue French-Open-Sieger die Magie dieser Nacht endlich in Ruhe genießen.

"Dieses Spiel hatte einfach alles. Ich überlasse anderen, wo sie es in der Tennis-Geschichte einordnen. Ich bin einfach stolz auf Jannik und mich", sagte der 22-jährige Spanier. Die blanken Zahlen - 4:6, 6:7 (4:7), 6:4, 7:6 (7:3), 7:6 (10:2) - des längsten Endspiels der Roland-Garros-Historie fangen dessen Zauber kaum ein. "Es war Wahnsinn, es war unwirklich", sagte Alcaraz.

Zum Match-Center: Jannik Sinner vs. Carlos Alcaraz

Der Comeback-König aus dem Städtchen El Palmar bei Murcia hatte aus einer ausweglosen Situation noch die Route zu seinem fünften Grand-Slam-Titel gefunden, den Highway to Heaven. Auf den Tag genau in dem Alter, in dem einst Rafael Nadal sein fünftes Major-Turnier gewann. "Das ist doch Schicksal", sagte Alcaraz: "Lasst das bitte nicht aufhören!"

"Was für ein Match, was für ein Finale!"

Dass er und der Weltranglistenerste Sinner (23), die sich so dramatisch und höchstklassig beharkten, wie kaum zwei Spieler je zuvor, in naher Zukunft nachlassen, ist auch unwahrscheinlich - es wird nicht aufhören. "Was wir heute gemacht haben", sagte Sinner nach seinem ersten verlorenen Grand-Slam-Finale trotzig-stolz, "tut dem Tennis gut".

Über diesen Sonntagnachmittag am Bois de Boulogne werden womöglich dereinst Bücher geschrieben und Netflix-Serien gedreht werden, und jene, die live dabei waren, ihren Enkeln davon erzählen. "Es ist nicht mit Worten zu erklären", rief Boris Becker ins Eurosport-Mikrofon: "Was für ein Match, was für ein Finale!"

Alcaraz-Sinner, das reihte sich, was die Dramaturgie anbetrifft, in die allergrößten Sportstunden ein: Thrilla in Manila, Nacht von Sevilla, LeMond-Fignon 1989, Powell-Lewis 1991. Die Marca schwärmte von der "größten Show der Welt", die Gazzetta dello Sport schrieb über ein Finale als "Paradies auf Erden".

Sinner hatte den Triumph dicht vor Augen, im vierten Satz drei Matchbälle. Nach Matchbällen gegen sich hatten zuvor nur zwei Spieler ein Major-Finale gewonnen: Gaston Gaudio (Paris 2004), Novak Djokovic (Wimbledon 2019). Alcaraz, dieses Mentalitätsmonster, ist nun der dritte.

"Ich glaube immer an mich. Furcht hilft nicht weiter", sagte er. 106 Minuten nach Sinners erstem Matchball war er am Ziel. Die endgültige Wendung eines schwindelerregenden Spiels. Tennis, bloody hell! Hätte Sir Alex Ferguson gesagt, muss Jannik Sinner gedacht haben.

Start in eine neue Generation

Und dennoch musste man inmitten dieser Euphorie um dieses sagenhafte Spiel eine Hintergrundinformation immer mitdenken: Sinner ist jemand, der nur 35 Tage vor diesem Finale aus dreimonatiger Dopingsperre entlassen wurde. Das war in Paris maximal Randthema. Was dem Tennis leider nicht gut, der künftigen Begeisterung aber wohl auch keinen Abbruch tut.

Was diese French Open letztlich auch zeigten: Die Djokovic-Generation tritt endgültig ab, die Alcaraz-Sinner-Generation hat übernommen. Und die Generation dazwischen, zu der auch der im Paris-Viertelfinale gescheiterte Alexander Zverev gehört, droht eine verlorene zu werden: In den 1990ern geborene Spieler haben bislang nur zwei Grand-Slam-Titel gewonnen: Thiem einen, Medvedev einen.

Ob Zverev, der in dieser Woche beim Rasenturnier in Stuttgart startet, daran noch etwas ändern kann, scheint angesichts dieser 5:29 Stunden, die lange nachwirken werden, fraglicher denn je.