Flashscore-Geschichtsstunde: Als Victor Osimhen Relegation gegen Braunschweig spielte

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Flashscore-Geschichtsstunde: Als Victor Osimhen Relegation gegen Braunschweig spielte
Aktualisiert
In Neapel ist Osimhen der große Star, in Deutschland war das etwas anders
In Neapel ist Osimhen der große Star, in Deutschland war das etwas andersAFP
Der Fußball ist ein kurzlebiges Geschäft. Die Helden von heute sind die Versager von morgen. Nach dem fünften Champions-League-Triumph stellen sich auch Weltklasse-Spieler wie Casemiro, Modric oder Kroos gerne einmal die Frage: was bleibt uns von diesen Erlebnissen eigentlich erhalten? Die Antwort: wunderschöne Erinnerungen und etliche erzählenswerte Geschichten. In der Flashscore-Geschichtsstunde begeben wir uns in die Fußballarchive und beleuchten die Historie des schönsten Sports. Heute widmen wir uns dem kurzen und wenig erfolgreichen Intermezzo von Victor Osimhen beim VfL Wolfsburg.

Viertelfinale in der Champions League und der Scudetto als Krönung der Saison. Napoli spielte 2022/23 eine der besten Saison der Vereinsgeschichte. Großen Anteil daran hat mit Victor Osimhen ein Spieler, den der VfL Wolfsburg im Jahr 2018 gar nicht schnell genug loswerden konnte.

Ganz ehrlich: bis vor kurzem hatte ich vollkommen verdrängt, dass Osimhen jemals in der Bundesliga auf dem Rasen stand. Eine kurze Randbemerkung in einem Artikel über die Serie A hatte mich erst wieder darauf aufmerksam gemacht — Osimhen war als Ex-Wolfsburger bezeichnet worden. Wir Sportjournalisten befinden uns ja laufend auf der Suche nach Ersatzwörtern. Aus dem HSV werden "die Rothosen", aus dem SC Freiburg "die Breisgauer". Was in erster Linie dazu dient, Wortwiederholungen zu vermeiden, führte mich auf eine Spurensuche.

Victor Osimhen wechselte 2017 für 3,5 Millionen Euro Ablöse nach Wolfsburg
Victor Osimhen wechselte 2017 für 3,5 Millionen Euro Ablöse nach WolfsburgProfimedia

Zuerst in der Redaktion nachgefragt, ob sich dort jemand an Osimhen in Wolfsburg erinnere, antwortete ein von mir sehr geschätzter Kollege mit: "Ja, ich hatte den damals bei Comunio. Absolute Gurke und unglaublich, dass der jetzt so spielt." Was Comunio ist oder war, können wir gerne in einer anderen Geschichtsstunde klären. Klar ist jedenfalls: auch für die Verantwortlichen beim VfL schien Osimhen lange Zeit eine "absolute Gurke" zu sein.

Der Traum von Europa wird zu trister Realität

Bevor Victor Osimhen am 1. Januar 2017 als offizieller Spieler in Wolfsburg registriert werden durfte  - wenige Tage nach seinem 18. Geburtstag, denn die FIFA-Regularien untersagten vor Beginn der Volljährigkeit einen Transfer nach Europa — hatte er bereits erste Trainingseinheiten mit gestandenen Bundesliga-Profis wie Mario Gómez und Jakub Blaszczykowski absolviert.

Dass sich der VfL um Osimhen bemüht hatte, war mit seiner grandiosen Leistung bei der U17-WM 2015 zu erklären. Beim Turnier in Chile hatte er mit Nigerias Auswahl den Titel gewonnen. Er kam mit der Empfehlung von 10 Treffern in 7 Spielen nach Deutschland, Osimhen hatte sich mit klarem Abstand zum Torschützenkönig gekürt.

Knapp eineinhalb Jahre später gab der damalige VfL-Geschäftsführer Klaus Allofs eine Kooperation mit Osimhens Verein in Nigeria bekannt: „Wir freuen uns sehr, dass wir mit der Ultimate Strikers Academy den ersten internationalen Kooperationspartner beim VfL Wolfsburg begrüßen dürfen. Für Talente wie Victor Osimhen ist es ein großer Vorteil, wenn sie bereits im Jugendalter punktuell Trainings- und Arbeitsabläufe von europäischen Profiklubs kennenlernen können“.

Osimhen sollte dem Kooperationsprojekt als Aushängeschild dienen. 3,5 Millionen Euro Ablöse wurden überwiesen. Die Erwartungen waren groß, der VfL Wolfsburg hatte die Vorsaison auf dem achten Platz beendet. Nun wollte man das europäische Geschäft angreifen, nach einem miserablen Saisonstart war die Euphorie jedoch schnell verpufft. 6 Punkte nahm man aus den ersten 9 Begegnungen mit, woraufhin Dieter Hecking durch Valerien Ismael ersetzt wurde. Als man in Niedersachsen noch fleißig die Realität verdrängte — denn die hieß nun mal Abstiegskampf — war der Deal mit der Ultimate Strikers Academy bereits eingetütet.

Als Osimhen mit den Profis mitzutrainieren begann, offenbarte sich schnell, dass sein Körper mit der erhöhten Belastung im europäischen Spitzenfußball noch nicht umgehen konnte. Mal fiel er aufgrund von Knieschmerzen aus, mal zwickte die Wade, mal tat die Schulter weh. Zudem mussten sich die Leute, die ihn geholt hatten, bald aus dem Verein abschieden.

Die anhaltende Erfolgslosigkeit lieferte weder für Trainer Ismael noch für Geschäftsführer Allofs stichhaltige Argumente. Beide waren während der Verhandlungen noch beim VfL angestellt gewesen, bei der anschließenden Präsentation fehlte Allofs bereits. Er war durch Olaf Rebbe ersetzt worden. Im Februar 2017 musste auch Ismael gehen, Andries Jonker kam. Doch die Personalwechsel halfen nicht, man rutschte tiefer und tiefer in den Abstiegskampf. Am 34. Spieltag sollte es beim Auswärtsspiel gegen den HSV um alles oder nichts gehen. Bei einer Niederlage würde der VfL voraussichtlich auf einen Relegationsplatz abrutschen — und so kam es dann auch.

Abstiegskampf: kein guter Boden für einen 18-Jährigen

Die Partie im Volksparkstadion wurde 1:2 verloren. Danach wurde auch Osimhen, der nur wenige Minuten auf dem Feld gestanden war, unter anderem für sein "amateurhaftes Zweikampfverhalten" vor dem entscheidenden Gegentreffer für die Pleite mitverantwortlich gemacht.

Auf ruhige Verhältnisse traf Osimhen keineswegs. Fehler auf dem Spielfeld waren Tabu, der existenzielle Druck war gigantisch. Hinzu kamen eine fremde Kultur, Sprachbarrieren. Im Kader gab es keinen Landsmann, der ihm bei der Integration geholfen hätte. Die Verantwortlichen in der Autostadt mussten sich um ihre eigenen Probleme kümmern, für einen sensiblen Umgang mit den jungen Talenten hatte kaum jemand die nötigen Nerven.

Auch der 38-jährige Allofs-Nachfolger Rebbe wurde den Ansprüchen nicht gerecht. Von den Medien wurde er als großes Talent dargestellt, als Beispiel für den neuen, jungen Weg, den man in Wolfsburg angesichts der Krise gehen wolle. Doch den Vorschusslorbeeren wurde er nie gerecht. Ob Paul-Georges Ntep oder Riechedly Bazoer, keine der Neuverpflichtungen Rebbes zündete. Im Mai 2018 war auch er Geschichte und wurde von Jörg Schmadtke abgelöst, Jonker wiederum im September 2017 durch Martin Schmidt ersetzt. 

Viel Fantasie ist nicht nötig, um sich vorzustellen, dass sich ein talentierter Teenager in solch prekären Verhältnissen kaum positiv entfalten konnte. Selten wurde ihm Spielzeit geschenkt. Gegenüber Sport1 sagte er einmal über seine Zeit in Wolfsburg: "Das Wetter, die Sprache, das Essen. Ich war zum ersten Mal in Europa, war gerade 18 Jahre jung und hatte nicht genug Zeit, mich zu akklimatisieren."

Der Traum, ein Fußballprofi, ein Weltstar zu werden, drohte zu platzen. Ein Verein, der zwar von der Champions League träumte, sich aber in der Relegation gegen Eintracht Braunschweig mit Müh und Not durchsetzen konnte (zwei 1:0-Siege), war für Osimhen nicht das richtige Pflaster. In 15 Einsätzen erzielte er kein Tor, gab keine einzige Vorlage. Die Möglichkeit, beim belgischen Erstligisten RSC Charleroi auf Leihbasis Erfahrungen zu sammeln, kam ihm äußerst gelegen. Erst dort sollte seine persönliche Erfolgsgeschichte beginnen: in 34 Pflichtspielen für Charleroi erzielte er 19 Treffer und gab vier Vorlagen. 

In Charleroi wusste man um sein Talent

Klugerweise hatte sich der Verein eine Kaufoption gesichert, in Höhe von 3,5 Millionen Euro. Ebenso viel Geld hatte auch der VfL einst nach Nigeria überwiesen. Charleroi machte bereits einen Monat später satten Gewinn, er wurde zu Lille transferiert — für 22,4 Millionen Euro. Auch in der Ligue 1 stellte er seine Treffsicherheit unter Beweis. Der heutige PSG-Trainer Christophe Galtier führte die Nordfranzosen auf Platz vier, Osimhen war in der Offensive sein großer Fixpunkt. Doch wie hatte das dem VfL passieren können? Wie konnte ein Talent ohne schlechtes Gewissen einfach verscherbelt werden?

Erst in Charleroi wurde man sich dem Talent von Osimhen (ausgetreckte Arme) richtig bewusst
Erst in Charleroi wurde man sich dem Talent von Osimhen (ausgetreckte Arme) richtig bewusstProfimedia

Es ist nie auszuschließen, dass hoch veranlagte Spieler trotz ausgefeilter Scoutingsysteme und detaillierter Datenerfassung komplett durch das Radar fallen. Doch es ist die eine Sache, ein Talent zu beobachten, sein wahres Potenzial nicht zu erahnen und sich aus sportlichen oder finanziellen Gründen bewusst gegen eine Verpflichtung zu entscheiden. Die andere Sache ist es, ein Toptalent direkt vor der Nase zu haben, und es mit Ansage aus dem Verein zu ekeln.

Es klingt hart, doch der zähe Abstiegskampf hatte die Stimmung in Wolfsburg vollkommen verpestet. Für ein gesundes Urteilsvermögen gab es nicht die nötige Ruhe, für die Bedürfnisse Osimhens keine Beachtung. In einem Interview mit dem Kicker beschrieb Jörg Schmadtke die fehlende Wertschätzung für das Edeljuwel eindrucksvoll: "Die Aussage, die ich damals im Club bekommen habe, war: Wir haben keinen Stürmer. Diejenigen, die wir haben, seien nicht zu gebrauchen."

Nach nur einer Spielzeit bei Lille überwies Napoli für seine Dienste 75 Millionen Euro. Wer damals bezweifelte, ob er die eben abgewanderten Mittelstürmer Fernando Llorente und Arkadiusz Milik ersetzen könnte, wurde spätestens in der aktuellen Saison eines Besseren belehrt.

Unter Luciano Spalletti machte er nochmals einen entscheidenden Schritt nach vorn. Taktisch wie physisch. Mittlerweile ist er deutlich athletischer, kann dadurch auch mit dem Rücken zum gegnerischen Tor arbeiten. Es sind nicht nur seine Treffer, die ihn für Napoli so bedeutend machen: Osimhen ist in der Lage, Bälle zu sichern, abzuschirmen und dadurch seinen Mitspielern Zeit geben, um ins vordere Drittel aufzurücken. Kombiniert mit seiner Geschwindigkeit, seiner Kaltschnäuzigkeit vor dem Tor und seinen Fähigkeiten am Ball ergibt das einen kompletten Weltklasse-Stürmer.

Am Fuße des Vesuv hat Victor Osimhen noch bis 2025 gültigen Vertrag. Höchstwahrscheinlich wird er den Verein jedoch früher verlassen, sämtlichen Spitzenvereinen aus der Premier League wird Interesse nachgesagt. Ebenso dem FC Bayern. Dann könnte er Napoli nicht nur den ersten Meistertitel seit über 30 Jahren, sondern auch ganz viel Geld beschert haben. Geld, das dem VfL Wolfsburg einst durch die Lappen ging.