Erling Haaland ist und bleibt ein Phänomen. Nach der deutschen Bundesliga hat er auch die Premier League im Sturm erobert und gleich in seiner Debütsaison einen neuen Trefferrekord aufgestellt. 36 Treffer sind in Englands höchster Spielklasse bislang noch niemand gelungen.
Haaland hat entscheidenden Anteil daran, dass ManCity den langzeitigen Tabellenführer Arsenal noch abfangen und den dritten Ligatitel in Folge feiern durfte. Im Finale des FA Cups rückte zwar Ilkay Gündogan mit einem Doppelpack in die Rolle des Vollstreckers – doch auf dem Weg ins Endspiel gegen Manchester United (2:1) waren Haaland drei wichtige Treffer gelungen.
Und auch in der Champions League hat der 22-Jährige seine Treffsicherheit eindrucksvoll unter Beweis gestellt. 12 Treffer in 10 Spielen sind einsame Klasse. Mo Salah, der Zweitplatzierte in der Torschützenliste, erzielte im Vergleich dazu “nur” acht Tore.
Er ist der erste Spieler, der in derselben Saison zum besten Spieler der Premier League und zum Nachwuchsspieler des Jahres gewählt wurde. Außerdem wurde er von der Football Writers' Association (FWA) zum Männerfußballer des Jahres ernannt.
Guardiolas letztes Puzzlestück
Manchester City hat am Samstag (21 Uhr, live im ZDF und in der Flashscore Audioreportage) gegen Inter Mailand die Chance, als zweites englisches Team nach Lokalrivale United 1999 das europäische Triple zu holen. Eine historische Chance. An der Haaland entscheidenden Anteil hat.
Er ist das Puzzlestück, welches Pep Guardiola bei den Skyblues lange vermisst hat. Auf höchstem Niveau geht es um Kleinigkeiten. Und natürlich ums Toreschießen. Ein Aspekt, der in Guardiolas Taktik manchmal zu kurz kam. Dementsprechend viel Sinn hatte es, 60 Millionen Euro nach Dortmund zu überweisen und den skandinavischen Terminator mit einem Jahresgehalt von 51 Millionen Euro auszustatten.
Doch wer Schlagzeilen schreibt, muss mit Gegenwind rechnen. Nicht jeder Experte wollte verstehen, inwiefern sich Haaland in den damals noch recht filigranen Spielstil der Citizens einfügen möchte. Mittlerweile hat der 22-Jährige seine Zweifler auf unmissverständliche Weise widerlegt – mit Toren am Fließband.
Noch im Februar hatte Sky-Experte Didi Hamann erklärt: “Man City war ohne Haaland ein besseres Team, auch wenn er in dieser Saison 40 Tore schießt.”
Eine seltsame Kritik. Denn worum geht es im Fußball? Letztlich ums Gewinnen, also auch ums Toreschießen. Hamanns Worte waren jenen von Liverpool-Legende Jamie Carragher zwei Wochen zuvor verblüffend ähnlich: “Sie sind also eine andere Mannschaft – und eine schwächere Mannschaft – mit Erling Haaland im Team.”
Und Carragher suggerierte auch, Haaland hätte sich das falsche Team ausgesucht. Seine physische und vertikale Spielweise passe nicht zu Guardiolas Vision von totaler Kontrolle.
Rio Ferdinand pflichtete zwar teilweise bei: "Die Dominanz und die Spielkontrolle war in den vorherigen Saisons etwas besser", merkte der Daily Mail gegenüber aber auch an: "Ich weiß nicht, wie jemand 25 Tore für eine Mannschaft schießen kann und dich das schlechter macht. Das kapiere ich wirklich nicht."
City-Kapitän Ilkay Gündogan blies dem TV-Sender Sky gegenüber in dasselbe Horn: “Wer 25 Tore in 20 Spielen schießt, der passt zu einer Mannschaft! Unser Spiel ist durch Erlings Qualitäten ein bisschen anders geworden. Sowohl er als auch die Mannschaft müssen sich darauf einstellen."
Der nächste Schritt ist getan
Erling Haaland hat sich längst an die Spielweise Guardiolas gewöhnt. Er sei mit dem Ziel nach Manchester gekommen, sich "weiterzuentwickeln" und sei dafür auch an der richtigen Adresse.
Tatsächlich konnte Haaland diverse spielerische Mängel ausmerzen. Im Vergleich zu Dortmund weist er beispielsweise eine bessere Passquote (72 Prozent gegenüber 69,5 Prozent 21/22) auf. Zahlen, die etwas beweisen: Nicht nur City hat sich an Haaland angepasst – auch Haaland hat sich an City angepasst.
Wie ihm das gelingen konnte? Hinter der Strafraumbestie verbirgt sich ein extrem ehrgeiziger und disziplinierter Vollblutprofi.
Im Gespräch mit dem ZDF erzählte Gündogan davon, wie "sehr überrascht" er Haalands Fleiß im Training gewesen sei: "Er ist immer einer der Ersten, die beim Training sind. Teilweise ist er eine Stunde vor dem Treffen da und lässt sich behandeln." Haaland sei extrem professionell, achte penibel auf seine Ernährung und seine Regeneration.
Man braucht nicht viel Fantasie, um sich vorzustellen, dass der Norweger dem Finale in Istanbul erneut seinen Stempel aufdrückt. Mit Romelu Lukaku ist auch ein Spieler auf der Gegenseite hin und weg von seiner Spielweise: “Ich denke, er wird zusammen mit Mbappé den Weltfußball in den nächsten 10 Jahren dominieren", sagte der Belgier gegenüber CNN: "Sie werden die Krieger der neuen Generation sein. Sie werden Messi und Ronaldo in den nächsten zwei Jahren endgültig ablösen."
Auf der Suche nach innerem Frieden
Der Trubel um seine Person lässt Citys Vollstrecker nicht gänzlich kalt: "Ich bin 196 cm groß und habe langes blondes Haar. Also werden mich die Leute überall erkennen, wo ich hingehe. So sieht nun einmal mein Leben aus. Was ich noch tun kann? Eigentlich nichts, das ist jetzt mein Leben. Ich muss einfach versuchen, es so gut wie möglich zu genießen. Ich muss versuchen, mich zu entspannen, wenn ich zu Hause bin und gute Freunde um mich habe. Das ist wirklich wichtig.”
Um abzuschalten, spielt Haaland in seiner Freizeit am liebsten Minecraft. Sollte er Manchester City zum ersten Champions-League-Triumph in der Vereinshistorie führen, wird Haalands virtuelle Traumstadt zwar darunter leiden, denn der Rummel um seine Person würde nur größer werden. Doch zumindest wäre er vorerst die leidigen Diskussionen um seinen Spielstil los.
Titel und Tore, das weiß auch Haaland, werden im Business Fußball besser verstanden als Wichtigtuerei und oberflächlich argumentierte Kolumnen. Und Titel und Tore sind bekanntlich Haalands große Spezialität.
Dementsprechend wird Haaland am Samstag (21 Uhr, live im ZDF und in der Flashscore Audioreportage) die erste Sorge von Simone Inzaghi sein. Der Inter-Trainer weiß zwar, wie man den Gegner durch eine gut organisierte Defensive kontrolliert. Doch Haaland ist einfach ein anderes Kaliber als Milans Olivier Giroud oder Juves Dusan Vlahovic.
Inzaghis wünscht sich natürlich, dass die kleine Ladehemmung des Norwegers noch etwas anhält. In den vergangenen vier Pflichtspielen traf er kein einziges Mal ins gegnerische Netz. Solange musste Haaland zuletzt im April 2021 auf einen Torerfolg warten. Was Inter Hoffnung macht – und wohl ebenso viel Angst.
Zum Match-Center: City vs. Inter